Antworten auf diese Frage hat Birgit Kolboske vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in der Historie gesucht - am Beispiel ihres eigenen Arbeitgebers, der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Denn wo, wenn nicht bei einer der international renommiertesten und erfolgreichsten Forschungsinstitutionen, dem deutschen Aushängeschild für exzellente Forschung, ließen sich die Wurzeln der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen besser erkunden?
Die Anamnese der Wissenschaftshistorikerin fällt dabei - zumindest für die untersuchten ersten 50 Jahre der Gesellschaft (1948-1998) - ernüchternd aus. Über viele Jahrzehnte waren Frauen in der MPG demnach hauptsächlich dazu da, männliche Forscher in ihrer Arbeit zu unterstützen - sei es als Sekretärin oder als unterstellte Wissenschaftlerin. Nach gleichen, gerechten Chancen von Männern und Frauen musste man an den Max-Planck-Instituten lange suchen: Als Sekretärinnen wurden sie kaum wahrgenommen, Wissenschaftlerinnen waren selten, und sie hatten meist nur in der Verwaltung, kaum in der Forschung, Karrierechancen. Kolboske beschreibt in ihrer als Dissertation angenommenen Analyse die Zustände innerhalb der MPG, bettet diese aber auch höchst lesenswert und streckenweise durchaus amüsant in ein gesellschaftliches Gesamtbild ein. Dabei wird schnell klar: In Fragen der Gendergerechtigkeit schnitt die Forschungsgesellschaft über Jahrzehnte hinweg nicht nur schlecht ab, sie hinkte sogar anderen Institutionen in Deutschland weit hinterher.
Die Ursachen dafür liegen somit, wie Kolboske ausführt, nicht nur im gesellschaftlich tradierten Rollenverständnis - die Frau hat Familie und Alltag zu organisieren, der Mann soll forschen und denken. Bei der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) wirkte darüber hinaus lange Zeit das sogenannte Harnack-Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau entgegen.
Adolf von Harnack, von 1911 bis 1930 erster Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, formulierte den Grundgedanken, dass Forschungsinstitute um einen führenden Wissenschaftler herum aufgebaut werden sollten. Der Schwerpunkt dieser Institute liege auf der Forschung und bilde somit eine Ergänzung oder sogar einen Gegenpol zu den Universitäten, die sich um die Ausbildung der Studenten kümmerten. Bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde exzellente Forschung von exzellenten Forschern gefördert. Dafür erhielten diese die größtmöglichen Entscheidungsfreiheiten - sowohl was die konkrete inhaltliche Ausrichtung der Forschung als auch was die Auswahl der Mitarbeiter betraf.
Dieses Harnack-Prinzip führte, wie Kolboske anschaulich und anhand zahlreicher zeithistorischer und wissenschaftlicher Quellen ausführt, bei der Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm Gesellschaft, der MPG, in den ersten Jahrzehnten zu einer gewissen "familiären" Struktur, bei der an der Seite eines Spitzenforschers, dem "Vater", eine "Mutter" (Sekretärin oder "Office-Wife") zur Seite steht. Vom Vater sind alle weiteren Institutsmitglieder abhängig. In diesem patriarchalen System führen Frauen zunächst eher als minderwertig empfundene Sekretariats- oder Laborarbeiten aus.
Dass sich beispielsweise die Arbeit von Sekretärinnen im Zuge der Digitalisierung zunehmend vom Kaffeekochen, Transkribieren der Diktate und der Textverarbeitung hin zu Übersetzung, Edition und Organisation verschoben hat, sie also von einer "Tippse" zu einer "Wissenschaftsmanagerin" geworden ist, wurde dabei über Jahrzehnte hinweg nicht anerkannt.
Aber nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der Forschung wurden Frauen in der MPG über die Jahrzehnte hinweg deutlich benachteiligt. Sie bekamen kaum verantwortungsvolle Forschungsstellen, von den 691 im von ihr betrachteten Zeitraum waren laut Kolboske nur 13 mit Frauen besetzt. Dabei habe das Harnack-Prinzip mit seinem "Geniekult" die patriarchale Wissenschaftsstruktur sogar gefestigt und der MPG dazu gedient, Frauen aus der Wissenschaft auszuschließen. Dem Mythos, Wissenschaft sei eine Lebensform, neben der es kein anderes, familiäres Leben geben könne - ja, neben dem ein solches nicht einmal erstrebenswert sei, wurde dadurch Vorschub geleistet. Mütter, die die Kindergartenöffnungszeiten oder Krankheiten ihrer Kinder im Blick hatten und sich zudem nicht dem Vorwurf, ein "Blaustrumpf" oder eine "Rabenmutter" zu sein, aussetzen wollten, war es in diesem System kaum möglich, ein exzellentes Forschungsinstitut nach MPG-Vorstellungen aufzubauen.
Kolboske, die am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte nicht nur forscht, sondern dort auch Gleichstellungsbeauftragte ist, gönnt Wissenschaftlerinnen immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer: Seit 1996 habe sich in der Gleichstellungspolitik der Gesellschaft einiges zum Besseren verändert, das Geschlechterverhältnis verbessere sich zunehmend, die Familienförderung werde gestärkt. Noch reicht das allerdings nicht. So wurde das selbst gesteckte Ziel von 20 Prozent Wissenschaftlerinnen in Spitzenpositionen bis zum Jahr 2020 verfehlt. Dass sich vor diesem Hintergrund der vormalige MPG-Präsident Martin Stratmann zu Beginn seiner Amtszeit 2014 explizit zum Harnack-Prinzip bekannte, verwundert nach der kurzweiligen Lektüre von Kolboskes sehr ausführlicher Analyse allerdings. In der F.A.Z. betonte der Materialwissenschaftler im September 2018 sogar, man müsse "mehr Harnack wagen" (Max-Planck-Gesellschaft: Mehr Harnack wagen (faz.net)). Es sei schließlich mehr und etwas anderes als die Konzentration exekutiver Macht und Verantwortung in den Händen weniger Direktoren, schrieb er in einem Gastbeitrag. "Es ist Ausdruck der Wissenschaftsfreiheit."
Wird es Patrick Cramer, seit diesem Jahr neuer Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, gelingen, das Ziel für das Jahr 2030, ein Frauenanteil von 30 Prozent in Spitzenpositionen, zu erreichen? Vor dem Hintergrund der Historie dieser Forschungsinstitution erscheint dies mindestens ambitioniert. PIA HEINEMANN
Birgit Kolboske: "Hierarchien. Das Unbehagen der Geschlechter mit dem Harnack-Prinzip". Frauen in der Max-Planck-Gesellschaft.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023. 570 S., 80,- Euro.
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