ab 1976 - weg von der kritischen Systemgenealogie der abendländischen Neuzeit, hin zur griechisch-römischen Antike und deren Problematisierung des Subjekts - eine führende Rolle gespielt und sollte wohl den krönenden Abschluß einer ganzen Werkphase ergeben. "Die Sorge um sich" heißt tatsächlich der dritte Band von "Sexualität und Wahrheit". Das Kernthema wird darin aber nur marginal entwickelt. Das große Buch über die Selbsttechniken mit der theoretisch durchgearbeiteten Wende von der Politik zur Ethik, von der Analyse der Machtdispositive zu der des Selbst, hat Michel Foucault nie geschrieben. Die Vorlesungen, die der Gelehrte im Frühjahr 1982, zwei Jahre vor seinem Tod, am Collège de France hielt, nehmen die Stelle jenes ungeschriebenen Werks ein.
Da Foucault testamentarisch jede postume Veröffentlichung unpublizierter Texte untersagte, sind diese Vorlesungen am Collège de France praktisch das einzige, was es an potentiell Neuem von diesem Autor noch zu entdecken gibt. Vier von den insgesamt dreizehn Vorlesungszyklen liegen im französischen Original schon vor. Auf deutsch ist dieser Band der dritte des - unchronologisch angelaufenen - Publikationszyklus. Zwei weitere Bände, "Sicherheit, Territorium, Bevölkerung" und "Geburt der Biopolitik", werden als "Geschichte der Gouvernementalität I und II" in diesem Herbst zeitgleich auf französisch und deutsch erscheinen. Trotz der teilweise weit ausgearbeitet vorliegenden Vorlesungsmanuskripte beruht der Text ausschließlich auf dem in privaten Tonbandaufzeichnungen erhaltenen gesprochenen Wort, um nicht gegen die erwähnte testamentarische Bestimmung zu verstoßen. So haben diese Vorlesungen mit ihrem spezifischen, etwas steifen Diskurs ihren eigenen Status, wie die französischen Herausgeber mit doppeltem Recht schreiben, im Gesamt der "philosophischen Akte" von Foucault. Die enorme Zitat- und philosophische Quellenbasis ist sprunghaft, wenig strukturiert, bald über-, bald unterkommentiert, manchmal mehr vorbereitendes Inventar als dessen Ausführung. Die Gedankenentwicklung läuft, dem Vortrag im Wochentakt entsprechend, resümierend voraus und zurück. Das macht die Lektüre gerade anregend im Hin und Her der thematischen Akzentverschiebungen, das schon im beigefügten Jahresrückblick aus der Feder Foucaults selbst einzelne Aspekte heraushebt, andere bereits wieder wegfallen läßt.
Nachdem die Vorlesung "Die Regierung der Lebenden" des Vorjahres 1980/81 noch die Wahrheitsfähigkeit des Subjekts in den christlichen Geständnispraktiken von Beichte, Gewissenserforschung und Gehorsam gegen die befreiende Eigenregulierung des Selbst bei Seneca, Marc Aurel, Epiktet abhob, herrscht im Zyklus "Hermeneutik des Subjekts" eher wieder eine Transversalität der Epochen vor. Ausgangsfeststellung ist für Foucault, daß das uns geläufige Prinzip "Erkenne dich selbst" eine einseitig kognitive Überblendung der viel weiter gefaßten "Sorge um sich selbst" aus dem delphischen Weisheitsfundus darstellt. Der "cartesianische Moment", wie Foucault ihn nennt, habe allein den objektiven Erkenntnisaspekt des subjektiven Zugangs zur Wahrheit herausgegriffen: Daß der Zugang zur Wahrheit dem Subjekt auch Arbeit an sich und Selbstveränderung abverlange, von der philosophischen Übung bis zur christlichen Askese, habe sich allenfalls in der abendländischen Geistlichkeit und deren spirituellen Praktiken gehalten. Nicht die Wissenschaft, stellt Foucault aber sogleich klar, habe den Keil zwischen das Sorge- und das Erkenntnis-Element getrieben, sondern die scholastische Theologie mit ihrem Universalisierungsversuch des Glaubens.
In Platons "Alkibiades", wo Sokrates den jungen angehenden Politiker zur Sorge um sich selbst und nicht bloß um Dinge und Besitzstände ermahnt, findet Foucault einen Grundlagentext seines Themas. Das goldene Zeitalter der Sorge um sich sieht er aber in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten gekommen. Sowohl bei Epikur wie in der Stoa wird das Sich-um-sich-selbst-Kümmern nicht mehr als Selbstanalyse in Vorbereitung auf ein politisches Amt verstanden und betrifft auch nicht mehr bloß didaktisch das Jugendalter. In der Ausweitung aufs ganze Leben und der Abkoppelung von jeder politischen Funktion wird die Sorge um sich zum wahren Motor der Selbstbildung und findet so auch ihr ganzes kritisches Potential, indem sie zur fortwährenden Korrektur der eigenen Lebensführung anspornt.
Die unmittelbar daraus entspringende Frage, die dem Vortragenden keinen Augenblick entgeht und immer neu hin und her gewendet wird, ohne zur endgültigen Fixierung zu kommen, ist die des Politischen: die Frage des Verhältnisses zum anderen in der radikalen Selbstpraxis. Gelangt der Vortragszyklus zu keiner abgerundeten Theorie des Politischen aus der Sorge um sich, so läßt er, stets in direkter Nähe zu den Referenztexten, faszinierende Streiflichter auf Einzelaspekte fallen. Daß bei Platon das kathartische und das politische Moment der Selbstkenntnis noch eins sind, ich mich also um mich selbst kümmern muß, um mich überhaupt um die anderen kümmern zu können, und das Heil der Polis dem Staatsmann gleichsam als Belohnung für seine Sorge um sich zufällt, daß in der griechisch-römischen Kaiserzeit Katharsis und Politik sich aber trennen bis zur Verabsolutierung des Selbst als einziges Objekt der Sorge um sich, ist Foucaults Grundhypothese. In Begriffsklärungen wie etwa der zur Idee des "Heils", das fern von der dramatischen Negativspannung von Erlöstsein oder Verderben im Sinne des Christentums in der Antike eine positive Alltagspraxis auf dem Weg in den Zustand der Gelassenheit war, wird jene Hypothese brillant konsolidiert. Auch bei seinen Differenzierungen zum Thema der "Konversion" zwischen Platons "epistrophe" und der christlichen "metanoia" wird Foucault nicht müde, daran zu erinnern, all das sei noch nicht im Stadium der Begrifflichkeit, allenfalls in dem der Gedankenbilder und der geistigen Anschaulichkeit: "Eines Tages wird es notwendig sein, die Geschichte dessen aufzuzeigen, was wir revolutionäre Subjektivität nennen könnten."
Diese Vorsicht rückt Foucaults Ausführungen Lichtjahre von jenen Zeitströmungen ab, die sich als dandyhafte Egozentrik oder subjektivistische Weltflucht in seiner Theorie oft wiederzuerkennen glaubten. Der unreflektiert selbstverliebte Zeitjargon von "zu sich kommen" und "man selbst sein" verstellte nach Ansicht Foucaults gerade den Horizont einer Ethik des Selbst. Eine "Hermeneutik des Subjekts" zielt nicht auf Selbsterfahrungskitsch oder kuschelige Auspolsterung des Ich, sondern auf scharfe und unablässige Wachsamkeit im Ausdeuten der winzigen Wechselfälle, die jeden Tag neu durch ein ganzes Leben gesellschaftlich das Selbst am Selbst reiben. Die ausgezeichnete Übersetzung von Ulrike Bokelmann gibt den Text in aller wünschenswerten Klarheit wieder, ein Namenregister, ein Literaturverzeichnis und eine ausführliche Situierung der Vorlesung von Frédéric Gros konsolidieren den Band in seiner ganzen philosophischen Relevanz.
JOSEPH HANIMANN
Michel Foucault: "Hermeneutik des Subjekts". Vorlesung am Collège de France 1981/82. Aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 694 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main