seinem Herrchen der Tatsache getrotzt, dass jedes Hundejahr doch wie sieben Menschenjahre gezählt werden muss?
Comics haben ihre eigene zeitliche Gesetzgebung. Das resultiert aus ihrer Geburtsstunde. Als Richard Felton Outcault 1895 seine Serie "Hogan's Alley" über die Alltagsabenteuer einer Schar von Hinterhof-Lausebengeln ins Leben rief, tat er es für die Sonntagsbeilage einer New Yorker Zeitung. Und schnell zeigte sich, dass das muntere, unverschämte Treiben der Bengel beim Publikum so gut ankam, dass man sie keinesfalls würde erwachsen und damit braver werden sehen wollte. In der ständig mit Überraschungen - meist böser Natur - aufwartenden Welt des Journalismus, stellt der Fortsetzungscomic eine Insel der Verlässlichkeit - meist lustiger Natur - dar, und mit jeder Fortsetzung beginnt alles wieder am Nullpunkt. Und in den Comic-Heften und -Alben verhält es genauso, wenn es sich dabei um Serien handelt.
Dann kam der 14. Februar 1921. An diesem Tag erschien in der "Chicago Tribune" eine Episode des Comic-Strips "Gasoline Alley". Der Protagonist der Serie fand ein ausgesetztes Baby vor seiner Tür. Und fortan erzählte der Zeichner von "Gasoline Alley", Frank King, die Geschichte dieses kleinen Jungen in Echtzeit: In jeder neuen täglich publizierten Episode wurde auch der Junge einen Tag älter. An jedem 14. Februar feierte er seinen imaginären Geburtstag, und King war konsequent genug, ihn erwachsen werden zu lassen: 1942 zog er in den Krieg, und danach heiratete er und bekam selbst Kinder, mit denen sich das Spiel wiederholte.
Damit war das Versprechen ewiger Jugend im Comic passé. Doch wenn Jean Giraud seinen Westernhelden Blueberry nicht nur vom Leutnant zum Marschall beförderte, sondern auch in die entsprechenden Altersklassen, oder Volker Reiche in dieser Zeitung den ursprünglich kleinen Jungen Rafael aus seiner Serie "Strizz" zum schlaksigen Jugendlichen heranwachsen ließ, sind das immer noch Ausnahmen. Und so darf auch der international bekannteste deutsche Comic-Zeichner auf Neugier rechnen, wenn er nun zwei seiner beliebtesten Figuren altern lässt: Ralf König konfrontiert Konrad und Paul mit den Malaisen des Alters.
Zur Erinnerung: Konrad Stubenburg und Paul Niemöser sind ein schwules Paar, das der Zeichner erstmals 1990 auftreten ließ, dann in den neunziger Jahren rasch in drei Alben fortsetzte und seitdem immer dann reaktivierte, wenn sich in Königs Welt etwas Entscheidendes veränderte. Kaum war etwa die eingetragene Lebenspartnerschaft für Schwule erlaubt worden, ließ König seine beiden Helden einander heiraten. Und so kam der Zeitablauf in die Geschichten hinein, doch wirklich älter im biologischen Sinne wurden Konrad und Paul dabei nicht. Sie wurden reifer und reicher an Erfahrungen, und das hörte man ihren Gesprächen an, aber man sah es ihnen nicht an.
Schnitt auf das Jahr 2017. Eine Kölner Einkaufsstraße. Paul trifft überraschend eine alte Liebe, "Bockwurst" aus Leverkusen, und der spricht ihn auf sein Alter an. Im Dating-Portal Gayromeo steht seit Jahren dasselbe Foto, und das Alter - angeblich neunundvierzig - ist auch schon länger nicht mehr aktualisiert worden. Die kurz rasierten schwarzen Haare bekommen graue Einsprengsel, und die geile Lederhose, die so manchen sexuellen Exzess gesehen hat, geht über dem Bauch nicht mehr zu. Macht nichts, könnte man meinen, das ist bei sexuellen Exzessen ja auch nicht ihre Aufgabe. Aber zu Exzessen kommt es gar nicht mehr. Die knackigen jungen Herren in den Clubs haben keine Augen mehr für den älteren Herrn Niemöser. "Herbst in der Hose" lautet der Titel von Ralf Königs neuem Comic.
Paul war schon immer der wilde, freche, ungezähmte, aber auch besonders liebesbedürftige Teil des Paars. Konrad dagegen ist ein fatalistischer Schöngeist - Klavierlehrer -, der sich deshalb mit den Veränderungen im Leben leichter tut. Viele Auftritte im neuen Buch hat er nicht, dafür besonders süffisante, wenn er Pauls Panik verspottet (unsere Abbildung). Doch im Zentrum steht Paul, in den Ralf König schon immer mehr autobiographische Elemente gesteckt hat als in Konrad. Der 1960 geborene Zeichner macht kein Geheimnis daraus, dass ihn sein eigenes Altern irritiert. Nicht nur, dass er sich dadurch in der stark auf Jugendlichkeit fixierten Schwulenszene ausgegrenzt fühlt, es ist auch die Unaufhaltsamkeit der körperlichen Veränderung, die König schockiert.
Und so spiegelt er sich einmal mehr in Paul, der hier im Laufe von 170 Comic-Seiten mehr als ein Vierteljahrhundert durchlebt, von Ende vierzig bis zu einem nicht mehr konkret bestimmten Datum, an dem er und Konrad gemeinsam ein Zimmer im katholischen Seniorenheim bezogen haben und den fünfzigsten Jahrestag ihrer Beziehung feiern - noch einmal wild soll es werden, Paul hat eigens Viagra ins Heim schmuggeln lassen. Doch es läuft anders als geplant, und das ist auch gut so. König findet für "Herbst in der Hose" ein wunderbar vieldeutiges Ende.
Vorher jedoch geht es in der Tat wild zu, auch nicht mehr sexuell, aber innerhalb der Schwulenclique um Paul, die alle vom selben Problem umgetrieben sind. Ralf König hat immer schon das Erzählen in kurzen Episoden geschätzt; auch wenn seine Comic-Bücher Hunderte von Seiten umfassen, setzen sie doch zuverlässig Zwischenpointen und schneiden das Geschehen auf beinahe filmische Weise. Deshalb konnte einer seiner Comics, "Der bewegte Mann" (1987), in der Regie von Sönke Wortmann zu einer der erfolgreichsten deutschen Filmkomödien werden. Diese Geschichten lassen einen kaum Atem holen. In "Herbst in der Hose" aber zieht mit der spürbaren Lebenszeit auch eine spürbare Lesezeit ein, es gibt elegische Passagen, stille Momente, Generalpausen. Die schönsten der letzteren Art sind zwischen die einzelnen Abschnitte eingeschobene Seiten, auf denen jeweils ein antiker Chor hinter zu stummen Schreien verzerrten Gesichtsmasken dargestellt ist. König ist auch ein großer Liebhaber des Theaters, wie man seit seiner Comic-Parodie auf die "Lysistrata" des Aristophanes weiß.
Und theatralisch ist, was hier passiert: große Leidenschaften, schnelle Szenenwechsel, witzige Dialoge und Katharsis. Die antike Trennung von Komödie und Tragödie ist aufgehoben. Es ist Ralf König ersichtlich todernst mit seinem Thema, und zugleich findet er einen lebenslustigen Zugang dazu. Wenn die Popsängerin Cher als zentrale Identifikationsfigur der Schwulenszene von Paul und seinen Freunden erst auf dem Sterbebett vermutet wird, ehe sich herausstellt, dass sie bald im Wochenbett landen wird, ist das eine der schönsten Szenen des Buchs - und nebenher in der individuellen Charakterisierung der Akteure ein kleines Zeichnermeisterstück.
Der ganze Band ist sogar ein großes: schwarzweiß, grau laviert und mit einem sichtbaren Alterungsprozess der Hauptfiguren, der trotz karikaturesker Überspitzung höchst subtile psychologische Studien erlaubt. Und obwohl insgesamt rund 25 Jahre vergehen, heißt es in den Textkästen immer wieder nur "Wenig später", denn wir merken ja so selten, wie die Zeit vergeht. Wenn das Älterwerden solche Comics hervorbringt, braucht sich Ralf König keine Sorgen zu machen.
ANDREAS PLATTHAUS
Ralf König: "Herbst in der Hose".
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 175 S., geb., 22,95 [Euro].
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