seinen fünften Geburtstag gerade hinter sich, da fallen er und sein jüngerer Bruder Victor zum ersten Mal "aus unserem Leben heraus". Wie ein beseligendes Geschenk empfindet der vorlaute "Lauselümmel" seinen Sturz in Nacht und Blindheit, bestand doch das bisherige Dasein aus nichts als Schmerz, Schmutz und Hunger. Plötzlich aber, tief unten in den Abwasserkanälen des Swan River, ist mit der Sichtbarkeit auch das Elend, sind mit dem Horizont auch die Angst, "Dublin und alles andere verschwunden". Hätte der Vater nicht sich selbst und seine beiden Söhne vor der Polizei in Sicherheit und also in die feuchte Unterwelt bringen müssen, wäre Henry Smart das Urerlebnis seiner Existenz versagt geblieben. "Runter ins Wasser, hinein in die reinigende Kälte", lautet fortan die Frohbotschaft aus Kindheitstagen.
Der spätere "Revolvermann und Rutengänger" Henry Smart verdankt seinem Vater nicht nur das Gespür fürs nasse Element, dessen läuternde Freuden von Gully zu Gully überreich fließen, sondern auch den Vorschein letztgültiger Wandlung. Säugling Henry bewirkte in seinen ersten sieben Erdentagen die Neugeburt einer armseligen Umwelt. Dank ungewöhnlich rosiger "Strahlkraft" verströmte das Baby jenen überwältigenden "Glanz der Unsterblichkeit", der die Liebe zwischen den Ehepartnern wieder keimen und bald das ganze Viertel zu einer Zinkwanne wallfahren ließ. Dort lag "Henry der Held" und schenkte im Oktober 1901 Dublin eine "Wunderwoche". Zwar blieb diese letztlich folgenlos, wurde der Vater wieder zum Schlagetot, die Mutter zum früh vergreisten Gerippe. In der kurzen Spanne des gemeinsamen Aufbruchs zum Glück sieht Henry Smart jedoch den Beweis, dass sein Traum vom allseitigen Neuanfang wahr werden kann. Der Erwachsene will einlösen, was das Kleinkind versprach. Da der Ort des neuen Menschen nur ein Reich eigener Schöpfung sein kann, zog wiederum Henrys Vater, im Brotberuf "Reinlasser und Rausschmeißer" auf der Vortreppe zu Dolly Oblongs Bordell, die Konsequenz hieraus und kreierte sich seine Identitäten selbst. "Er erfand sich immer wieder neu" und baute so unablässig an einem zweiten Universum, geformt aus Geschichten und Gewalttaten. Leider jedoch mangelte es ihm an der nötigen Intelligenz, um die eigenen von den fremden Märchen zu unterscheiden. Henry Smart junior hat aus dem Scheitern von Henry Smart senior gelernt. Der namensgleiche Stammhalter verlegt sich ganz vom Fabulieren aufs Terrorisieren.
"Irland war mir einen Dreck wert", dachte Straßenkämpfer Smart im selben Jahr, als er am so genannten Osteraufstand teilnahm. Die Ausweglosigkeit trieb ihn 1916 dennoch ins Hauptpostamt von Dublin, das Zentrum der Erhebung, und direkt an die Maschinengewehre. Nicht Irland von britischer Besetzung, sondern sein Leben von Einsamkeit und Anonymität will Henry Smart befreien. Das ehedem "glänzende Kind" will "schießen und kaputtschlagen und schinden und töten" und endlich wieder Held sein. Schließlich weiß Henry seit der Taufe im Swan River, dass der Tod, der Absturz in stockdunkle Nacht, der Geburt vorausgeht. Beerdigt muss die Welt werden, damit das Grab zur Wiege, das Postamt zur Zinkwanne sich wandeln kann.
Den Aufstand schlägt die britische Polizei schnell und brutal nieder. Henry Smart als einer der wenigen Überlebenden ist nun "ein wandelnder Heiliger". Seine individuelle Biographie lässt er bereitwillig in der Nationalgeschichte Irlands aufgehen. Aus demselben Grund, aus dem sein Vater Dolly Oblong verehrte, die geschäftstüchtige Bordellbesitzerin, die mit Parfüms und Perücken "sich ihre eigene Welt geschaffen hatte", kämpft Henry Smart der Jüngere gegen die Briten. Auch er will Herr seines Lebens, Autor seiner Geschichte werden. Die frühkindlich grundgelegte Machtphantasie machen die Propagandisten der IRA sich gerne zunutze. Ein "Gesalbter", ein "Auserwählter", ein "Apostel" darf Henry Smart sein, weil und solange er mordet. Der Tod ist seine einzige Botschaft.
Noch bevor sich indes die Prophezeiung des nationalistischen und antisemitischen Demagogen Jack Dalton, jetzt werde das irische Volk seine Geschichte selbst schreiben, bewahrheiten kann, spürt Henry den fahlen Beigeschmack der Rebellion. Eine neue Ära, die nur durch Gewalt siegen kann, bleibt stets dem Verhassten verhaftet. Auch die Erinnerung an den Initiationsritus wird von dieser Einsicht getrübt: In "Dublins heimlichen Flüssen" lauerten neben Papa und Bruder, neben Freiheit und Fantasie stets auch "Gestank und Gespenster". Ob es wirklich immer "nur den einen Weg" gibt, der eben ins Unterreich führt und zum Terror aus Schwäche, zur Wandlung aus Trotz, bezweifelt der mittlerweile neunzehn Jahre alte Killer Smart.
Sein Leben erscheint ihm als die höhnische Imitation der väterlichen Gangsterkarriere, von der er sich im Namen des rechtlosen Proletariats eigentlich lossagen wollte. Klassenkampf hieß einst die Parole.
Langsam ahnt der "wandelnde Sprengstoff" Henry Smart, dass der Terror beginnt, wo Alternativen fehlen oder zu fehlen scheinen. Die Sehnsucht nach dem Jenseits von Zwang und Untertänigkeit stillt kein Bombenwurf. Ohne sich dieses Zusammenhangs bewusst zu sein, besucht Henry wohl auch deshalb regelmäßig seine Großmutter, Oma Nash. Früher hielt er sie für eine Hexe, die nach Zaubersprüchen fahndet in den Werken von Tolstoi, Rousseau, Shakespeare. Jetzt bringt er ihr zu jedem Treffen ein gestohlenes Buch mit. Im Gegenzug versorgt die gänzlich in der Wortwelt lebende Alte ihn mit familiären Anekdoten. Durch diese Geschichten, die ebenso der Wirklichkeit wie deren poetischer Brechung entsprungen sind, lernt Henry seine Herkunft und sich selbst kennen. Dass er ausgerechnet dort, vor einer "Wand aus Büchern", verhaftet und misshandelt wird, ist die Rache der Literatur an einem ihrer widerspenstigsten Verehrer.
Die Hoffnung der Abwassertaufe hat getrogen. Gar so leicht war auch zu Beginn des Jahrhunderts Transzendenz nicht zu haben. Die Gemeinschaft der Kampfgenossen verstößt schließlich sogar ihren willigen Helfer. In Chicago, so menetekelt es auf Seite 288, wird man ihn "Jahre später an die Wand stellen". Alles Weitere ist den drei von Erfolgsautor Roddy Doyle bereits geplanten Fortsetzungen zu entnehmen. Der handlungsreiche erste Roman, der einzig aus der großmäuligen Rede und der sentimentalen Erinnerung der Titelfigur besteht, lässt an eine Weiterentwicklung des im neunzehnten Lebensjahr sattsam ausbuchstabierten Charakters kaum glauben. Das wahrhaft unauslöschliche Merkmal Henry Smarts nämlich ist sein Narzissmus.
ALEXANDER KISSLER
Roddy Doyle: "Henry der Held". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Renate Orth-Guttmann. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 2000. 415 S., geb., 39,80 DM.
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