hedonistischen Exzessen. Aber jede These provoziert ihre Gegenthese. Vertritt der Hedonismus, der Genuss und Lust zum höchsten Wert erklärt, nicht doch das Recht des Einzelnen, selbst zu bestimmen, wie er leben wolle, unbekümmert um Ermahnungen politischer, religiöser oder philosophischer Autoritäten, sorgsam zwischen den höheren Bedürfnissen des Geistes und den niederen des Körpers zu unterscheiden?
Nun ist eine umfangreiche Studie erschienen, die den Hedonismus gegen den Vorwurf verteidigt, er rede durch sein Prinzip egoistischer Lustmaximierung einer moralisch verwerflichen Lebenshaltung das Wort. Schroff wird in ihr der Primat hedonistischer Werte gegenüber moralischen Normen postuliert. Dem Autor geht es nicht darum, einen Kompromiss oder eine Balance zwischen beiden Sphären zu finden. Moralische Normen und Werte haben gegenüber hedonistischen, so eine Kernthese des Buches, nur eine instrumentelle Funktion. Die Klugheit gebietet es, sich an ihnen zu orientieren.
Andreas Bachmann verficht einen quantitativen oder, in seiner Terminologie, prudentiellen Hedonismus: Ethik reduziert sich für ihn auf eine Anleitung zur Berechnung von Lust und Freude sowie zur Vermeidung von Schmerz. Entscheidend sind nicht die Qualität der Lust - sogar Sadismus ist als "erfahrene Freude prudentiell positiv zu bewerten" -, sondern einzig ihre Dauer und Intensität. Es ist einsichtig, dass damit moralische Werte und Normen den prudentiellen "nicht mehr prinzipiell übergeordnet" sind. Zwar könne man nicht in jeder Situation frei entscheiden, ob man seinen prudentiellen Interessen folge oder moralisch handele, denn einmal akzeptiert, seien Normen verpflichtend, allerdings nicht als Imperative, sondern als Klugheitsregeln.
Nun kann man sicherlich darüber streiten, ob es "Konfliktsituationen geben kann, in denen jemand moralische Erwägungen zu Recht zugunsten seines prudentiellen Eigeninteresses zurückstellt". Aber eine Philosophie, die keine kategorischen Normen aufstellt und aufstellen will, muss Kriterien benennen, in welchen Fällen das Eigeninteresse schwerer wiegt als moralische Rücksichtnahme. Im Verzicht auf ein Entscheidungsverfahren zur Bestimmung des für ein Individuum prudentiell Guten oder Besten glaubt Bachmann eine Stärke der Theorie zu sehen, die konsequent auf religiöse und metaphysische Annahmen verzichte.
Doch auch in der Philosophie ist das Lob der Askese nicht immer ein Zeichen von Enthaltsamkeit. Die vermeintliche metaphysische Zurückhaltung passt schlecht zum anthropologischen Ideal, jeder Mensch solle den "prudentiellen Gesamtwert" seines Lebens bestimmen, indem er die Freudeerfahrungen addiere und die Schmerzerfahrungen davon subtrahiere. Anders als wohlmeinende Ratgeber zur Lebenskunst, die immer noch den Büchermarkt überschwemmen, unternimmt Bachmann gar nicht erst den Versuch, den kalkulatorisch-buchhalterischen Impetus zu verbergen.
In seinem Buch finden sich zwar manche scharfsinnige Begriffsanalysen, über das intrinsisch Gute, über Evidenz und Erfahrung, über den ontologischen Status neurophysiologischer Zustände, doch seine Empfehlungen für ein gutes, glücklichen Leben sind ähnlich trivial wie jene der Ratgeberliteratur. Statt nach den historischen, kulturellen, sozialen Bedingungen unterschiedlicher Glückserwartungen und Glückserfüllung zu fragen, bleibt es bei der Auskunft, es scheine "gewisse anthropologisch fest verankerte Quellen von Glück zu geben, die gleichsam mit praktischer Notwendigkeit Glückserfahrungen hervorrufen".
Wie viele an analytischer Philosophie Geschulte vertraut Bachmann allzu sehr seiner Intuition, ohne zu bedenken, wie stark lebenspraktische Überzeugungen sich verändert haben und sich verändern. Wenn der Hedonismus noch aktuell ist, dann nicht wegen der Kritik an religiöser oder esoterischer Spiritualität. Eine Ethik, die universalistische Werte postuliert, ohne das Glücksstreben des Einzelnen zu ignorieren, bleibt ein philosophisches Desiderat. Der prudentielle Hedonismus vermag diese Aufgabe aber so wenig zu lösen wie eher verschwiemelte Bücher zur "Philosophie der Lebenskunst".
GERD SCHRADER
Andreas Bachmann: "Hedonismus und das gute Leben".
Mentis Verlag, Münster 2013. 381 S., br., 42,- [Euro].
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