Waggons der Hamburger Hochbahn bis zum Corporate Design der Lufthansa. Erstaunen müssen diese Ergebnisse - längst international gerühmt und zu Designklassikern aufgestiegen - aber erst recht, wenn man weiß, wie wenig einträchtig es an der HfG zuging.
Gewiss werden hochschulpolitische Auseinandersetzungen auch andernorts mit rustikalen Mitteln geführt. Auf dem Ulmer Kuhberg jedoch hat man das zu beklemmender Perfektion geführt. René Spitz, der in Köln Designgeschichte lehrt und nun einen Band mit Fotografien aus den ersten Jahre der HfG herausgegeben hat, nimmt in seiner Einleitung kein Blatt vor den Mund und zeichnet das Bild eines auf Dauer gestellten Konflikts um den richtigen Weg. Gerade weil viel auf dem Spiel stand, schenkte man sich nichts. Immerhin sollte die Hochschule in die Tradition des Bauhauses treten, war also mit denkbar großem programmatischen Anspruch gegründet worden. Plakat oder Schrifttype, Hocker oder Schallplattenspieler - mit ihrem Design wollte man, so kurz nach dem Krieg, an der demokratischen Erneuerung arbeiten. Nicht zufällig war die rechtliche Trägerin der HfG die Geschwister-Scholl-Stiftung.
Einer der energischsten Anwälte dieser Ideen war Otl Aicher, und der hatte genaue Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Koch und Kellner. In zwei ausführlichen Statements, die hier zum ersten Mal publiziert werden, lässt Aicher keinen Zweifel daran aufkommen, wie wenig er von der Verwissenschaftlichung der Ulmer Lehrpläne hielt. Design, wie man auch in Deutschland zu jener Zeit zu sagen begann, blieb für ihn eine Frage der praktischen Auseinandersetzung am einzelnen Objekt. Theorie sollte den höheren Zweck moderner Formgebung unterstützen, sich aber nicht an dessen Stelle setzen; und schon gar nicht sollten Wissenschaftler die HfG leiten. Gerade das aber war, begünstigt durch eine demokratische Hochschulordnung, längst geschehen. Als Aicher 1962 selbst zum Rektor gewählt wurde, war sein erster Schritt - um die Verhältnisse geradezurücken - eine Reform dieser Ordnung. Dass er dabei auch das Ende einer finanziellen Förderung durch den Bund in Kauf nahm, war ein fatales Zeichen.
Wenn man um solche Konflikte weiß, blickt man mit anderen Augen auf die gut vierhundert Fotografien, die dieser Band versammelt. Aufgenommen wurden sie von Hans G. Conrad, der an der HfG nicht irgendein Student war, sondern ihr allererster. Er befand sich also in der privilegierten Situation, die Entwicklung der Hochschule wirklich von Anfang an zu begleiten und wichtige Stationen aus den ersten Jahren zu dokumentieren. Conrad war dabei, als in provisorischen Räumen der Ulmer Volkshochschule die ersten Kurse gegeben wurden - und er fotografierte niemand anderen als Walter Peterhans, der am Bauhaus selbst Fotografie unterrichtet hatte. Natürlich war Conrad mit seiner Kamera vor Ort, als das neue Hochschulgebäude errichtet wurde. Doch mag überraschen, dass er auch dann fotografieren konnte, wenn die Hochschulleitung zu ihren Sitzungen zusammentrat.
Allein schon die Existenz dieser Bilder ist ein sprechendes Zeugnis. Sie erzählen vom Selbstbewusstsein der Ulmer, die offenbar darum wussten oder fest daran glaubten, dass sich mit ihrem Aufbruch etwas Wichtiges verbindet, das es festzuhalten galt. Conrad, der nach seinem Studium selbst einer der wichtigsten Designer der Bundesrepublik wurde und, nach Jahren als weltweiter Werbeleiter bei der Lufthansa, gut zwei Jahrzehnte lang das Erscheinungsbild des Wirtschaftsmagazins "Capital" prägte, war zur Stelle, wenn Bundespräsident Heuss vorfuhr oder, für die chronisch unterfinanzierte Hochschule wenigstens ebenso wichtig, Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank. Vor allem aber begleitete er den Lehrbetrieb mit seiner Kamera und registrierte dabei einen bemerkenswerten Wandel: Die große Karriere, die der Gestalter Otl Aicher bis in die frühen Neunzigerjahre machte, lässt all zu schnell vergessen, dass er an der HfG nicht allein ein maßgebender Lehrer war. Conrad zeigt, wie sich Aicher ganz selbstverständlich unter die Schüler einreihte und Josef Albers über die Schulter schaute, als dieser 1954 einen Grundkurs zur Farbenlehre gab.
In einem ausführlichen Beitrag umreißt Thilo Koenig anschaulich die Entwicklung der Fotografie zwischen Bauhaus und HfG. Doch kann dies nicht verdecken, wie auffallend klein die Rolle war, die man diesem Medium im Curriculum beider Hochschulen zugestand. Zwar war auch Aicher ein durchaus fleißiger Fotograf, doch gehörte diese Praxis in seinem Sinn wohl eher zu den dienenden Fakultäten, rückte also ganz in die Nähe der wissenschaftlichen Disziplinen. Gerade das aber mag Conrads intensiver fotografischer Präsenz nützlich gewesen sein. Wie es bereits vor ihm Lucia Moholy und Lux Feininger am Bauhaus taten, vermitteln seine Bilder den Blick eines Insiders, dem bemerkenswert viele Türen offen standen. STEFFEN SIEGEL
Hans G. Conrad:
"aicher in ulm",
Hrsg. von René Spitz.
Verlag der Buchhandlung
Walther König, Köln 2023. 304 S., Abb., geb., 78,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main