Girards Analysen religiöser Opfer und heiliger Gewalt nur einzelne religionshistorische Hinweise auf gewalttätige kultische Praktiken bei den alten Griechen, den Azteken und den Hindus. Auch erfährt man nichts über moderne "kriminelle Religion", politische Religionen und aggressiven religiösen Ethnonationalismus. Doch bieten die mehrheitlich in Österreich lehrenden Handbuch-Autoren eine Sinndeutung von "nine eleven" an, die ihr Expertenwissen als Theodizee gelehrter Naivität erscheinen läßt.
Hat man nicht immer schon gewußt, daß alles Böse auch sein Gutes hat? Zu den positiven Folgen des 11. September zählt der Handbuch-Herausgeber Johann Figl, Ordinarius für Religionswissenschaft an der Universität Wien, den Legitimationsgewinn fürs eigene Fach. Die früher "unbekannte Disziplin" (G. Löhr) erfahre "in der Öffentlichkeit heute gewissermaßen eine Hochkonjunktur". Die "Zahl der Studierenden, die dieses Angebot wählen", sei jedenfalls in Wien "kontinuierlich wachsend". Kann es dann nicht als höhere Fügung gelten, daß die Gesellschaft neuerdings erhöhter Deutungskompetenz in Sachen Religion bedarf? Wer heute Religionswissenschaften studiert, braucht morgen eine Stelle. So leitet Figl aus dem Terror des 11. September die Forderung nach mehr Spezialsubventionen ab. "Es wird Aufgabe wissenschaftspolitischer Maßnahmen sein, angemessen auf die globalen Entwicklungen zu antworten und die facheinschlägigen Institute entsprechend zu fördern und neue zu gründen."
Doch sind knappe öffentliche Mittel sinnvoll investiert, wenn die Religionswissenschaften ausgebaut werden? Wer als Haushaltspolitiker eisern sparen will, sollte das "Handbuch Religionswissenschaft" lesen. Zwar bietet es einige gute Artikel zu historischen Religionen, etwa Jan Assmanns stringente Übersicht über "Ägyptische Religion". Ansonsten aber macht viel semantische Schaumschlägerei nur die Ratlosigkeit dieser Wissenschaft angesichts der dramatischen religiösen Wandlungsprozesse der Gegenwart deutlich. "Es ist heute nicht möglich, von einem allgemein geteilten Verständnis des Faches Religionswissenschaft zu sprechen, diese Disziplin ist in gewissem Sinne auf der Suche nach ihrer Identität, nachdem alte Fachverständnisse verabschiedet worden sind." Um ihr prekäres "disziplinäres Identitätsgewebe" zu stabilisieren, werden nur die üblichen akademischen Sandkastenkämpfe nachgestellt, ob eine Religion besser "von innen" durch Theologen oder "von außen" durch vermeintlich wertneutral denkende Religionswissenschaftler zu verstehen sei.
Natürlich haben die neuen Chefdenker der Engaged Religious Studies oder "Angewandten Religionswissenschaften" die schöneren Theorieförmchen, weshalb sie den theologischen Schmuddelkindern gern Sand ins Gesicht werfen. Auf die postmodernen Analysen, daß ein allgemeiner Religionsbegriff nur ein semantisches Konstrukt europäischer Aufklärer sei, reagiert Figl mit dem Herrschaftsgestus, den kulturhegemonialen Deutungsanspruch okzidentaler Wissenschaft über die unendlich vielen religiösen Symbolwelten in Geschichte und Gegenwart noch zu steigern. Max Weber habe als ein Begründer der Religionssoziologie den neuen Religionswissenschaftlern nicht viel zu sagen. Klassiker der kulturwissenschaftlichen Religionsdiskurse um 1900 wie Georg Simmel, Eduard Norden, Hermann Usener und Ernst Troeltsch tauchen gar nicht erst auf. So kann man die Historizität aller religionsanalytischen Deutungsmuster ignorieren und den dogmatischen Wissenschaftsglauben verkünden, daß Begriffe und Methoden der modernen Religionswissenschaft zu allen Zeiten und für alle Religionen erschließungskräftig seien.
Wer bis zum lustigen Ende durchhält, darf Kapitel über "Religionen-Didaktik" und "Dialog der Religionen" lesen. Spätestens die "Weltreligionendidaktischen Grundregeln nach Lähnemann" legen die literarkritische Vermutung nahe, ins "Handbuch Religionswissenschaft" seien pseudonym publizierte Texte von Eckard Henscheid und Max Goldt eingeschleust worden. Denn offen muß sich einbringen, wer dem fernen anderen unverstellt begegnen können will. Auch soll man vorurteilsfrei zuhören, um überhaupt vernehmen zu können. Allerdings sind "interreligiöse Dialoge" schwierige Veranstaltungen, kann man doch an ganz richtig Fremde geraten, die uns furchtbar unverständlich zu bleiben drohen. Manche Dialogpartner wollen uns gar weh tun und müssen deshalb mit besonderer Empathie angesprochen werden. Der Interreligionsdidaktiker hilft mit Diskursregeln für "aufbauendes Lernen", so daß "Lehrende auch als Person" ihre "Aufmerksamkeitshorizonte" erweitern können. Das "erste Element" der "Grundregel 2" lautet: "Sich an möglichst authentischer Information orientieren". Informiert das Wiener "Handbuch Religionswissenschaft" authentisch nur über die cognitive maps von Akademikern, denen zur neuen religiösen Gewalt bloß einfällt, daß man "Lehrkanzeln" für "religionshistorische Zeitgeschichte" einrichten solle?
FRIEDRICH WILHELM GRAF
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