auch der Franzose Christian Baechler (1996) und der Engländer Jonathan Wright (2002) haben unlängst umfängliche und bedeutende Stresemann-Biographien vorgelegt. Zu ihnen gesellt sich nun ein amerikanischer Autor. John P. Birkelund ist kein Fachhistoriker. Nach etlichen Semestern Geschichtsstudium an der Princeton University war er von 1953 bis 1956 als amerikanischer Marineoffizier in Berlin stationiert und danach beruflich als Geschäftsführer verschiedener Investmentgesellschaften tätig. Doch daneben beschäftigte er sich - ermutigt durch akademische Mentoren - intensiv mit dem Außenminister der Weimarer Republik. Als Ertrag seiner langjährigen Studien präsentiert er ein pointiertes Lebensbild Gustav Stresemanns. Zwar finden sich hin und wieder fehlerhafte Angaben, aber insgesamt handelt es sich um eine gut lesbare Darstellung.
Wie andere vor ihm steht Birkelund im Bann einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte, die sich als eindringlicher Entwicklungsroman erzählen läßt: Der Kleinbürgersohn aus dem Berliner Südosten, der zum international angesehensten deutschen Staatsmann der Zwischenkriegszeit aufstieg, der geläuterte Nationalist, der sich vom Verfechter annexionistischer Kriegsziele und des unbeschränkten U-Boot-Kriegs während des Weltkriegs in den zwanziger Jahren - nicht aus Opportunismus, sondern aus Einsicht - zum Verständigungspolitiker wandelte, der erfolgreich den Ausgleich mit den früheren Feindmächten suchte und als erster Deutscher mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Es ist diese Entwicklung, die Birkelund auf solider Materialgrundlage (auch der Stresemann-Nachlaß ist gründlich ausgewertet) nachzeichnet, anschaulich und mit viel Empathie, aber doch keineswegs unkritisch, denn auch Schwächen und Widersprüche im Leben des Helden kommen zur Sprache.
Einige Facetten aus dem von Birkelund gezeichneten Lebensbild seien hervorgehoben. Er sieht Stresemann darin als Ausnahmeerscheinung, daß dieser schon frühzeitig die Bedeutung der Wirtschaft als Schlüsselfaktor in den internationalen Beziehungen erkannte und seine frühe Einsicht, Politik sei in erster Linie Weltwirtschaft, später konsequent seinem politischen Agieren zugrunde legte. Was Stresemanns umstrittene Rolle beim Scheitern eines Zusammenschlusses der beiden liberalen Parteien in den Wochen nach der Novemberrevolution angeht, bezieht Birkelund eindeutig Stellung. Er meint, es gäbe allen Grund zu der Annahme, daß Stresemann "im November tatsächlich bereit war, gegebenenfalls seine politischen Ambitionen zu opfern, wenn dies den Zusammenschluß (der Nationalliberalen Partei) mit der Fortschrittspartei erleichtert hätte, und den völligen Ausschluß von allen Gremien der Deutschen Demokratischen Partei zu akzeptieren, wenn dadurch eine faire und tragfähige Lösung ermöglicht worden wäre" - doch weil eine solche Lösung nicht zustande kam, gründete Stresemann die Deutsche Volkspartei. Birkelund befindet sich mit dieser Feststellung ebenso auf der Höhe der Forschung wie bei der Bewertung von Stresemanns Wandlung vom Monarchisten zum Vernunftrepublikaner: Diese Haltung habe sich "langsam und schrittweise" entwickelt.
Eindringlich porträtiert Birkelund Stresemann als einen unbeugsamen Politiker der Mitte, der seine Partei - gegen erhebliche innerparteiliche Widerstände - von der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei abgrenzte, damit sie koalitionsfähig nicht nur nach rechts, sondern auch nach links sein konnte. Die "Große Koalition" von der DVP bis zur SPD war das Regierungsbündnis, das nach seiner Auffassung am ehesten den Erfordernissen der Lage Deutschlands entsprach und das in den Wochen seiner Kanzlerschaft erstmals auf Reichsebene realisiert wurde. Ausführlich geht Birkelund auf die heftigen Auseinandersetzungen ein, die Stresemann mit dem rechten Flügel seiner Partei, insbesondere in der Reichstagsfraktion, zu führen hatte - Auseinandersetzungen, in denen er sich zwar meist durchsetzen konnte, die ihn aber viel Kraft kosteten, ihn zermürbten und gesundheitlich schädigten.
Zustimmend zitiert Birkelund das Urteil des sozialdemokratischen Rechtsphilosophen und zweimaligen Reichsjustizministers Gustav Radbruch über Stresemann, Formulierungen, die ins Schwarze treffen: "Es war seine große politische Kunst, das Rechte immer auch zur rechten Zeit zu tun, sich unbekümmert um seine frühere Haltung durch die Situation immer neu belehren zu lassen und, je mehr er mit seinen Zwecken wuchs, um so unbekümmerter um Widerstände auch in der eigenen Partei durchzusetzen, was er als recht erkannt hatte . . . Dabei war seiner taktischen Geschicklichkeit so viel menschliche Wärme beigemischt, daß er auch persönlich für sich gewann."
EBERHARD KOLB
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