jenen, die auf politischer Ebene mitverantwortlich waren, die Schlagadern wieder durchlässig zu machen. Von 1957 bis 1991 war er in der West-Berliner Senatskanzlei tätig gewesen und hatte zwischen 1973 und 1989 die Position des "Besuchsbeauftragten des Senats" inne. Kunze schreibt allerdings nicht eine anekdotenreiche Insider-Geschichte, sondern legt ein aus den Quellen gefertigtes, fundiertes Überblickswerk über die Beziehungen zwischen dem West-Berliner Senat und der DDR-Regierung vor. Der zeitliche Rahmen reicht zwar vom Kriegsende bis zur Auflösung der DDR, allerdings beschäftigt sich der Autor vor allem mit der Zeit nach dem Mauerbau. Die Schwierigkeit bei den Verhandlungen bestand von Anfang an darin, dass die DDR versuchte, den Verhandlungen ein diplomatisches Aussehen zu geben, um Berlin in die Rolle einer selbstständigen, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Stadt zu drängen; der West-Berliner Senat musste dem Ansinnen entgegenwirken. In der Rückschau mutet das damit verbundene Geplänkel grotesk an, es war aber Ausdruck der ideologischen Grabenkämpfe. In den achtziger Jahren fanden die von Kunze geleiteten Verhandlungen in dessen Arbeitszimmer im Rathaus Schöneberg statt, obwohl der Raum viel zu klein war. Die DDR-Delegation war aber keinesfalls bereit, den Sitz des Berliner Senats zu verlassen und im Amtsgebäude des Wirtschaftssenators zu verhandeln. Weil vor dem Rathaus täglich die Flagge der Bundesrepublik gehisst wurde, beharrten die DDR-Vertreter auf dem Verhandlungsort Rathaus Schöneberg, betraten das Gebäude aber über einen Nebeneingang.
Neben der Schilderung der Passierscheinverhandlungen zwischen 1961 und 1969 wird im zweiten Hauptteil die "Vertragspolitik der Jahre 1970-1989" vorgestellt. Zwischen 1972 und 1989 führte der Besuchsbeauftragte des Senats 204 Gespräche. War in den sechziger Jahren das Klima "frostig und steif", spielte sich nach Brandts neuer Ostpolitik und dem Vier-Mächte-Abkommen eine gewisse Routine ein. Das erste Zusammentreffen eines Regierenden Bürgermeisters mit dem Staatsratsvorsitzenden verbesserte auf DDR-Seite das Gesprächsklima. In diesem Treffen zwischen Richard von Weizsäcker und Erich Honecker am 15. September 1983 sieht Kunze eine "wichtige Zäsur", da die DDR diese "hochrangigen Direktkontakte" mit der "großzügigen Erfüllung jahrelang von West-Berliner Seite vergeblich vorgebrachter Wünsche" honoriert habe. Die Ergebnisse der Verhandlungspolitik sind beeindruckend. Zwischen 1963 und 1989 wurden vierzig Vereinbarungen zwischen West-Berlin und der DDR getroffen. Allein 15 betrafen den Reise- und Besucherverkehr, hinzu kamen Vereinbarungen über Gebietsaustausch, Versorgung und Entsorgung der Stadt. Durch die Reisemöglichkeiten kam es zwischen 1963 und 1966 sowie zwischen 1972 und 1989 zu mehr als 45 Millionen Besuchen - zwischen 1967 und 1971 war der Besuch nur bei so genannten "Härtefällen" möglich.
War es das Ziel des West-Berliner Senats, durch ein kalkuliertes Aufeinanderzugehen die Mauer durchlässiger zu machen, lag die Aufgabe der DDR-Grenztruppen darin, dies zu verhindern. Peter Joachim Lapp legt mit seinem Buch "Gefechtsdienst im Frieden" eine neue Materialzusammenstellung vor. In einer nüchternen Sprache werden Fakten über Fakten geliefert. Über die Organisation der Grenztruppen, die Kosten der Sperrelemente, die Splitterwirkung der Selbstschussanlagen bis zur Befehlslage beim Schusswaffengebrauch werden die Leser informiert.
Die Methoden und Mittel der Grenzsicherung waren in den jeweiligen Gebieten höchst unterschiedlich. Während an der innerdeutschen Grenze neben der Schusswaffe mit Bodenminen und Selbstschussanlagen (bis 1983) gegen "Grenzverletzer" vorgegangen wurde, fehlten diese mörderischen Anlagen an der Grenze zu West-Berlin. An der Ostseeküste wurde von der Schusswaffe nur in wenigen Fällen Gebrauch gemacht. Die Grenzen zu den Nachbarstaaten des Warschauer Paktes standen nur unter "Grenzbeobachtung" und kamen ohne brachiale Gewalt aus. Ein eigenes Kapitel ist dem Beziehungsgeflecht Grenzsicherung, Ministerium für Staatssicherheit und Parteierziehung gewidmet. Nicht nur, dass das MfS "mehr oder minder allein bestimmte", wer zur Grenzsicherungstruppe eingezogen wurde, durch die Schaffung der Position eines "Grenzbeauftragten des MfS" im Jahr 1986 war der Einfluss der Stasi auf die Grenzsicherung auch institutionell festgeschrieben.
Bei allem Verdienst, eine Vielzahl an Fakten über die innerdeutsche Grenze zusammengetragen zu haben, kann die Art der Präsentation allerdings nicht überzeugen. In einer nicht endenden Flut ergießen sich Abkürzungen über die Seiten. Statt Dokumente sprachlich zu vermitteln und zu analysieren, werden deren Inhalte aufgelistet. Da der Autor von der Politisierung und Instrumentalisierung seines Themas weiß, muss es überraschen, dass er die Diskrepanz der Zahlenangaben über die an der innerdeutschen Grenze Getöteten je nach Quelle nicht erklärt. Während die Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität 474 Todesopfer aufführt, spricht die Arbeitsgemeinschaft "13. August" von 938 Todesopfern. Lapp spricht von "Zehntausende(n)", die nach Paragraph 213 des DDR-Strafgesetzbuches bestraft wurden, der für den "ungesetzlichen Grenzübertritt" Haftstrafen von zwei bis zu acht Jahren vorsah.
Das Buch bietet ansonsten grundsolide Informationen, die die Monstrosität der Anlagen vor Augen führen, kommt aber über eine Art Nachschlagewerk nicht hinaus. Eine umfassende gesellschafts- und politikgeschichtliche Darstellung des "Grenzregimes" steht noch aus.
JÜRGEN SCHMIDT
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