Tagelöhnerei und den Ruin treibt. "Wann immer Hori vom Tagewerk ausruhte und eine Pfeife rauchte, umstellte ihn die Sorge von allen Seiten wie eine schwarze Wand." Am Ende schuftet er sich buchstäblich zu Tode.
Schuld an der Misere ist nicht zuletzt Horis Schicksalsglaube, die Demut, mit der er sich ausbeuten lässt und alles als gottgewollt hinnimmt. Schuld ist aber vor allem eine Wirtschaftsordnung, nach der die Großgrundbesitzer Steuern an die englischen Kolonialherren zahlen müssen (der Roman spielt in den frühen dreißiger Jahren), deshalb ihrerseits die Pächter aussaugen, mittels Geldeintreibern, die ebenfalls auf ihre Kosten kommen wollen. Schließlich sind die Bauern, um ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen, auf Verleiher angewiesen, die wiederum Wucherzinsen nehmen. Es ist ein System, dass einem Hori Ram keine Chance lässt. "Godan" jedenfalls, die Zeremonie beim Tod eines Hindu, bei der eine Kuh an den Brahmanen verschenkt wird, auf dass das heilige Tier den Scheidenden in die andere Welt segenbringend begleite - "Godan" muss in Horis Fall leider ausfallen, zumal der teure Wiederkäuer längst von einem Neider vergiftet worden ist.
Premtschand (1880 bis 1936) war der Sohn eines Kleinbauern und Posthalters aus der Schreiberkaste. Früh hat er Entbehrungen kennengelernt, früh die Eltern verloren. Mit fünfzehn wurde er verheiratet und musste für die ganze Familie sorgen. "Godan oder das Opfer", sein letzter und pessimistischster Roman aus dem Jahr 1936, gilt heute als prominentestes Werk der Hindi-Literatur, was etwas bedeuten will bei einer Sprachgemeinschaft von 360 Millionen Menschen. Allerdings richtet sich das Auge der literarischen Weltöffentlichkeit nicht gerade bevorzugt auf die Hindi-Dichtung. Deshalb ist Premtschand im Westen nicht so bekannt wie etwa der Nobelpreisträger Tagore oder jüngere postkoloniale Autoren, die auf Englisch schreiben. In Indien jedoch ist er ein gefeierter Klassiker, wie sich zuletzt im Jahr 2005 anlässlich seines 125. Geburtstages zeigte.
In "Godan" verwebt er auf achthundert Seiten das Kleinbauernschicksal mit zahlreichen Nebenhandlungen. Hori Ram als typischer Landbewohner - Liebe zu seinem Acker, Autoritätsfurcht, Fleiß und ein wenig List kennzeichnen ihn - wird mit Vertretern der reichen städtischen Oberschicht kontrastiert, die sich eine sozialkritische Darstellung gefallen lassen müssen: Unternehmer, Redakteure, Politiker, Gewerkschaftsführer, deren Lebensstil dem urbanen westlichen Vorbild entspricht, vor dem Hintergrund der schwarzen Sorgenwände, die Hori Ram umstellen, aber ungeheuer bevorzugt erscheint. Während in der Stadt die Kastengesellschaft kaum noch eine Rolle spielt (auch die Angehörigen verschiedener Religionen gehen frei miteinander um), hat sie auf dem Land immer noch fürchterliche Wirkung. Die einflussreiche Priesterkaste der Brahmanen etwa fällt in diesem Roman vor allem durch den Missbrauch ihrer Privilegien auf.
Der Verklärung des Landlebens und der "Scholle", wie sie zur Entstehungszeit des Romans ja nicht nur in Deutschland grassierte, erteilt Premtschand eine unmissverständliche Absage. "Ist Sona eine Königin, dass sie den ganzen Kuhmist allein kneten darf?", beklagt sich Horis Tochter über die vermeintliche Bevorzugung ihrer großen Schwester bei der Produktion handgemachter Brennfladen. Aber trotz seines ernüchternden Grundzugs enthält der Roman durchaus poetische Beschreibungen.
Es ist ein mit realistischer Meisterschaft geschildertes Gesellschaftspanorama des kolonialen Indien - eines Landes voller Spannungen und unerledigter Probleme auf dem schwierigen Weg in die Unabhängigkeit. Positive Gestalten sind der Philosophieprofessor Mechta und die Ärztin Malti. Während andere Figuren gerne sozialistische Ideen predigen, aber den eigenen Vorteil zur Maxime ihres Handelns machen, opfern sich diese beiden für die Mitmenschen auf, wie es Gandhi, der um 1930 bereits großen Einfluss hatte, forderte. Die Ärztin behandelt die Armen umsonst, der Professor stiftet sein Gehalt den mittellosen Studenten und Witwen. Beide machen kein Aufhebens von ihren guten Taten, was sehr wichtig ist für die Ethik, die in Premtschands Roman Konturen gewinnt.
Wie in den großen russischen Romanepen des neunzehnten Jahrhunderts gibt es ausgiebige politisch-philosophische Debatten; Gespräche über Gott und die Gerechtigkeit und die Frauenemanzipation und alles, was die Menschen eben umtreibt beim verspäteten Aufbruch in die Moderne. Auch durch die universale Psychologie des Menschlich-Allzumenschlichen wirkt die fremde indische Welt in vielem sehr vertraut: Familienfehden, Freude und Ärger mit den Kindern, Missgunst der Nachbarn. Bei aller Lebensqual wartet das Buch mit vielen humorvollen und anrührenden Momenten auf. Sehr anschaulich sind die Charaktere, allen voran Horis Frau Dhanija: eine resolute Person, hart und bitter geworden vom harten, bitteren Leben, zugleich aber von großer Menschlichkeit, eine Mutter Courage, die Konventionen auch einmal zurückstellen kann. Ihr Sohn hat ein Mädchen geschwängert, um dann erst einmal von der Bildfläche zu verschwinden. Die junge Frau ist von ihren Eltern verstoßen worden und gilt nun als völlig entehrt. Dhanija nimmt sie bei sich auf, gegen alle Anfeindungen.
Aber was hat dies alles mit dem Indien von heute zu tun? Eine ganze Menge, denn über dem imposanten Wirtschaftswachstum des Landes, der boomenden Informationstechnologie, den glitzernden Metropolen und der Bollywood-Prächtigkeit vergisst man leicht, dass einige hundert Millionen Inder nach wie vor ihre kleine Landwirtschaft betreiben und mit kaum mehr als einem Dollar am Tag auskommen müssen. Immer noch leben und sterben sie wie Hori Ram: arm und verschuldet. Die durch Missernten noch verschärfte Situation hat allein in den letzten fünf Jahren Zehntausende von Bauern in den Selbstmord getrieben. Das sind Verhältnisse, die sich ein Bewohner der westlichen Welt kaum vorstellen kann. Dieser Roman hilft der Phantasie ein wenig auf die Sprünge.
WOLFGANG SCHNEIDER
Premtschand: "Godan oder das Opfer". Aus dem Hindi übersetzt von Irene Zahra. Mit einem Nachwort von Annemarie Etter. Manesse Verlag, Zürich 2006. 896 S., geb., 26,90 [Euro].
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