Paraguay. Dorthin war Roschmann 1977 aus Argentinien geflüchtet, kurz darauf starb er in Asunción. Für Schneppen wurde dies zum Beginn einer Spurensuche. Leicht war sie nicht. Denn vom Leben eines subalternen SS-Funktionärs, der noch dazu die meiste Zeit seines Lebens im Untergrund verbrachte, hat sich nur wenig erhalten. Schon deshalb ist diese biographische Rekonstruktion eine beachtliche Leistung.
Roschmann, 1908 bei Graz geboren, engagierte sich seit 1927 im Steirischen Heimatschutz, der sich schon 1933 der österreichischen NSDAP unterstellte. Von dort war der Weg zur SS nicht weit, in deren Listen Roschmann, der in seiner "zivilen" Existenz als Angestellter wenig Befriedigung fand, ab 1938 geführt wurde. Seit 1941 gehörte er zu jener Mordmaschinerie, die in Europa den Tod von Millionen Menschen organisierte. Seine Laufbahn liest sich so: 1941 Einsatzgruppe A, seit Jahresende "Judenreferent" im Ghetto von Riga, 1943 "Ghettokommandant" und 1944 beim Sonderkommando 1005, das die ermordeten Juden "enterden", verbrennen und so die Spuren der deutschen Massenverbrechen tilgen sollte. Erst 1944 wurde er Untersturmführer, erhielt den niedrigsten Führergrad der SS, obwohl er doch die Voraussetzungen für eine "Führer-Laufbahn" besaß. Sein Biograph kommt zu dem Schluss, dass der historische mit dem literarischen Eduard Roschmann nur wenig gemein hat. Ein Exzesstäter war er nicht; eine Wiener Jüdin, die ihn im Rigaer Ghetto beobachtete, beschrieb ihn als "fad".
Gleichwohl hätte Roschmann nach 1945 schon aufgrund seiner Funktionen den Tod verdient. Dies hätte, mit Verlaub, deutlicher herausgestellt werden können. Noch ärgerlicher ist es, wenn der Verfasser über Seiten die Glaubwürdigkeit der überlebenden Opfer in Zweifel zieht. Keine Frage - die "oral history" hat ihre methodischen Probleme, große sogar. Auch ist es angemessen, ja nötig, wenn Schneppen betont, dass die Zeugenaussage von allen juristischen Beweisen nun einmal der schwächste ist. Doch sollte nicht übersehen werden, wie sehr Typen wie Roschmann auf eine systematische Vernichtung aller Zeugen und Spuren hinarbeiten konnten. Schneppens Ergebnis, es gäbe "keinen Roschmann belastenden konkreten Fall, der von einem zweiten unabhängigen Zeugen bestätigt würde", mag juristisch bedeutsam sein - aber historiographisch? Zur Erinnerung: Bis zu seiner Schließung wurden im Ghetto von Riga, in das seit November 1941 auch "Reichsjuden" deportiert wurden, Zehntausende Menschen umgebracht. Dabei übernahm Roschmann eine zentrale Funktion, ganz unabhängig davon, ob er nun beim Morden selbst Hand anlegte oder nicht. Bemerkenswerterweise begann das auch Roschmann erst allmählich einzusehen. So, als sei nichts gewesen, suchte er nach Kriegsende zunächst sein Leben in Graz fortzusetzen. Erst seine Verhaftung im Dezember 1947 beendete diese Illusion. Kurz darauf gelang ihm die Flucht, bei der er sich ebenfalls jener "Rattenlinien" bediente, die ihn nach Argentinien brachten. Er war nicht der Einzige. Allerdings kursieren auch hier weit übertriebene Zahlen. Vor allem aber: Von einer clandestinen SS-Nachfolgeorganisation fehlt auch hier jede Spur. Roschmanns Fall ist dafür einmal mehr ein Beispiel.
Was folgte, war eine kümmerliche Existenz im Verborgenen, die erst "Odessa" beendete: wohlgemerkt Buch und Film, nicht aber imaginäre "alte Kameraden". Denn durch die Verfilmung des Bestsellers (Maximilian Schell als Roschmann) war er so bekannt geworden, dass ihm der Boden in Argentinien allmählich zu heiß wurde. Dass seine Flucht in Paraguay schließlich endete, war eher Zufall. Als Mann ohne Eigenschaften wird er beschrieben, aber eben auch als ein gut funktionierendes Rädchen einer monströsen Vernichtungsmaschinerie. So gesehen ist Roschmann ein weiteres Beispiel für die Banalität des Bösen.
Heinz Schneppen: Ghettokommandant in Riga - Eduard Roschmann. Fakten und Fiktionen. Metropol Verlag, Berlin 2009. 343 S., 24,- [Euro].
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