
Geschichte des Selbstmords Minois, Georges
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- ISBN-13: 9783596138135
- Artikelnr.: 27062546
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Hand an sich legen
Georges Minois versucht eine Phänomenologie des Selbstmords / Von Lothar Müller
Den Begriff "Selbstmord" verdanken wir der polemischen Energie, mit der die christliche Theologie seit jeher das skandalöse Phänomen in den Kreis des fünften Gebotes zu bannen suchte. Weder die "Selbstentleibung", die vor allem im 18. Jahrhundert, noch der "Freitod", der seit dem frühen 20. Jahrhundert als Konkurrenzbegriff auftrat, konnte die Vorherrschaft des "Selbstmords" nachhaltig erschüttern. Wer Hand an sich legt, begeht eine dreifache Todsünde. Er verstößt gegen das natürliche Gesetz der Selbsterhaltung, gegen die Vorsehung Gottes, der allein das Recht hat, die Trennung des Körpers von der Seele
Georges Minois versucht eine Phänomenologie des Selbstmords / Von Lothar Müller
Den Begriff "Selbstmord" verdanken wir der polemischen Energie, mit der die christliche Theologie seit jeher das skandalöse Phänomen in den Kreis des fünften Gebotes zu bannen suchte. Weder die "Selbstentleibung", die vor allem im 18. Jahrhundert, noch der "Freitod", der seit dem frühen 20. Jahrhundert als Konkurrenzbegriff auftrat, konnte die Vorherrschaft des "Selbstmords" nachhaltig erschüttern. Wer Hand an sich legt, begeht eine dreifache Todsünde. Er verstößt gegen das natürliche Gesetz der Selbsterhaltung, gegen die Vorsehung Gottes, der allein das Recht hat, die Trennung des Körpers von der Seele
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herbeizuführen, und gegen die Rechte der Menschengemeinschaft, der er sich entzieht.
Die "Geschichte des Selbstmords", die der französische Historiker Georges Minois vorlegt, ist anders, als ihr Titel glauben machen könnte, keine Universalgeschichte ihres Gegenstandes. Außereuropäische Traditionen der Selbsttötung kommen darin nicht vor. Das alteuropäisch-christliche Verdikt ist der Fixpunkt, von dem aus Minois auf die Antike zurückblickt und den Zeitraum vom 16. bis ins späte 18. Jahrhundert als den eigentlichen Gegenstand seiner Studie ins Auge faßt. Der Anfang des großen Hamlet-Monologs ist dem Buch als Motto vorangestellt. Es folgt erkennbar der Polarität von Ordnung und Subversion, Norm und Abweichung und will als Geschichte der allmählichen, über Jahrhunderte sich erstreckenden Erosion eines Tabus gelesen sein, dem die Möglichkeit zur freien Wahl zwischen Sein und Nichtsein erst spät abgerungen werden konnte. Zu den Schutzheiligen des Aufklärers und Anwaltes für das Recht des modernen Menschen auf Selbsttötung gehört Montaigne, der sich zwar gegen den Selbstmord aussprach, zugleich aber die von Augustinus verurteilten Selbstmörder des Altertums wiederauferstehen ließ und die antike Moralphilosophie ohne die rhetorische Vormundschaft der christlichen Ethik zu Wort kommen ließ.
Montaigne prägte als literarische Form der Reflexion des Gegebenen und Gebotenen aus der Perspektive des Individuellen den Essay aus. Minois aber ist Historiker. In seinem Buch hat der Essay, dem Stil wie der Methode nach, einen Widerpart: die Statistik. Seit Emile Durkheims Studie "Le Suicide" (1897) ist sie für die Erforschung der Selbsttötung als Tatsache und "fait social" zuständig. Nun gibt es im Mittelalter wie in der frühen Neuzeit und noch im 18. Jahrhundert allenfalls rudimentäre und stets mit Vorsicht zu behandelnde Quellen zur Geschichte der Selbstmörder. Denn da ihr Tod schimpflich war und ihr Vermögen enteignet werden konnte, gab es starke Motive dafür, auch offensichtliche Selbsttötungen in natürliche Tode umzudefinieren. Klerus und Adel brachten es darin, wie Minois ausführlich belegt, zu einer gewissen Virtuosität.
Zudem gilt generell, daß sich von der Geschichte der Verschriftlichung des Selbstmordes nicht umstandslos auf die Sphäre der "Tatsachen" zurückschließen läßt. "Der Diskurs über den Selbstmord hat kaum Einfluß auf die Tatsachen. Man tötet sich nicht im Rhythmus der theologischen, moralischen oder juristischen Traktate, sondern in dem der Leiden, Ängste und der Frustrationen." Minois versucht trotz dieser Asymmetrie zwischen Tatsachen und Ideengeschichte des Selbstmordes, beide zugleich zur Darstellung zu bringen, wobei er sich im wesentlichen auf französisches und englisches Quellenmaterial beschränkt. Seine Vorliebe für lange, chronikalische Aufzählungen dokumentierter Selbstmordfälle läßt einen Prototyp von Statistik entstehen. Zugleich ist sein Ehrgeiz unverkennbar, literarische Quellen - etwa die Dramen Shakespeares, Racines und Corneilles - den Abhandlungen der Philosophen und Moraltheologen mindestens gleichrangig an die Seite zu stellen.
Aus dem Bündnis beider Motive resultiert der stoffliche Reichtum des Buches. Es informiert über die diskursive Konstruktion des Mythos vom Selbstmord als "englischer Krankheit" ebenso zuverlässig wie - in Variation eines der Zentralmotive Durkheims - über den Zusammenhang von ökonomischer Krise und Selbstmordneigung im Blick auf den englischen Adel um 1700. Es vergißt über der erschöpfenden Rekonstruktion des neuzeitlichen Stimmengewirrs aus Apologie und Verurteilung des Selbstmords nicht die stumme, weitgehend invariante Allgegenwart der prosaischen Selbsttötungen in den illiteraten unteren Volksschichten. Um den Kern der eigenhändigen Selbstauslöschung versammelt es die Vielzahl der "indirekten" Selbstmorde der Märtyrer, Mystiker und Duellanten. Und schließlich verfolgt es den "Wahnsinn" als Entlastungskategorie von der älteren Melancholietradition bis hinein in die Medizin der Aufklärung.
Doch kommt das "schwarze Loch der Vernichtung", von dem Minois spricht, bei allem Reichtum an historischem Material kaum wirklich in den Blick. Allzu schnell werden die literarischen Quellen, die sich ihm zu nähern versuchen, an die Pro- und Contra-Struktur einer Begriffsgeschichte des Selbstmords zurückgebunden. Die Phänomenologie des Selbstmordes, seiner Gesten und Requisiten aus der virtuellen Perspektive dessen, der ihn verübt, bleibt trotz der Berufung auf Hamlet eine auffällige Leerstelle. Entsprechend der These, daß das 19. und 20. Jahrhundert der in der Antike begonnenen, in der Renaissance und in der Aufklärung fortgeführten Debatte über den Selbstmord nichts Substantielles hinzugefügt habe, taucht Jean Amérys Essay "Hand an sich legen" (1976) nicht einmal im Literaturverzeichnis auf.
Das mag, bezogen auf das Arsenal der klassischen Argumente, vertretbar sein. Doch berührt es den Leser eines Buches, in dessen Deutung von Renaissance und Aufklärung Durkheims Krisenbegriff nachhallt, seltsam, wenn er das 20. Jahrhundert nur als Appendix statt als Imperium im Weltreich der Selbsttötung gewürdigt findet.
Georges Minois: "Die Geschichte des Selbstmords". Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1996. 520 S., geb., 59,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die "Geschichte des Selbstmords", die der französische Historiker Georges Minois vorlegt, ist anders, als ihr Titel glauben machen könnte, keine Universalgeschichte ihres Gegenstandes. Außereuropäische Traditionen der Selbsttötung kommen darin nicht vor. Das alteuropäisch-christliche Verdikt ist der Fixpunkt, von dem aus Minois auf die Antike zurückblickt und den Zeitraum vom 16. bis ins späte 18. Jahrhundert als den eigentlichen Gegenstand seiner Studie ins Auge faßt. Der Anfang des großen Hamlet-Monologs ist dem Buch als Motto vorangestellt. Es folgt erkennbar der Polarität von Ordnung und Subversion, Norm und Abweichung und will als Geschichte der allmählichen, über Jahrhunderte sich erstreckenden Erosion eines Tabus gelesen sein, dem die Möglichkeit zur freien Wahl zwischen Sein und Nichtsein erst spät abgerungen werden konnte. Zu den Schutzheiligen des Aufklärers und Anwaltes für das Recht des modernen Menschen auf Selbsttötung gehört Montaigne, der sich zwar gegen den Selbstmord aussprach, zugleich aber die von Augustinus verurteilten Selbstmörder des Altertums wiederauferstehen ließ und die antike Moralphilosophie ohne die rhetorische Vormundschaft der christlichen Ethik zu Wort kommen ließ.
Montaigne prägte als literarische Form der Reflexion des Gegebenen und Gebotenen aus der Perspektive des Individuellen den Essay aus. Minois aber ist Historiker. In seinem Buch hat der Essay, dem Stil wie der Methode nach, einen Widerpart: die Statistik. Seit Emile Durkheims Studie "Le Suicide" (1897) ist sie für die Erforschung der Selbsttötung als Tatsache und "fait social" zuständig. Nun gibt es im Mittelalter wie in der frühen Neuzeit und noch im 18. Jahrhundert allenfalls rudimentäre und stets mit Vorsicht zu behandelnde Quellen zur Geschichte der Selbstmörder. Denn da ihr Tod schimpflich war und ihr Vermögen enteignet werden konnte, gab es starke Motive dafür, auch offensichtliche Selbsttötungen in natürliche Tode umzudefinieren. Klerus und Adel brachten es darin, wie Minois ausführlich belegt, zu einer gewissen Virtuosität.
Zudem gilt generell, daß sich von der Geschichte der Verschriftlichung des Selbstmordes nicht umstandslos auf die Sphäre der "Tatsachen" zurückschließen läßt. "Der Diskurs über den Selbstmord hat kaum Einfluß auf die Tatsachen. Man tötet sich nicht im Rhythmus der theologischen, moralischen oder juristischen Traktate, sondern in dem der Leiden, Ängste und der Frustrationen." Minois versucht trotz dieser Asymmetrie zwischen Tatsachen und Ideengeschichte des Selbstmordes, beide zugleich zur Darstellung zu bringen, wobei er sich im wesentlichen auf französisches und englisches Quellenmaterial beschränkt. Seine Vorliebe für lange, chronikalische Aufzählungen dokumentierter Selbstmordfälle läßt einen Prototyp von Statistik entstehen. Zugleich ist sein Ehrgeiz unverkennbar, literarische Quellen - etwa die Dramen Shakespeares, Racines und Corneilles - den Abhandlungen der Philosophen und Moraltheologen mindestens gleichrangig an die Seite zu stellen.
Aus dem Bündnis beider Motive resultiert der stoffliche Reichtum des Buches. Es informiert über die diskursive Konstruktion des Mythos vom Selbstmord als "englischer Krankheit" ebenso zuverlässig wie - in Variation eines der Zentralmotive Durkheims - über den Zusammenhang von ökonomischer Krise und Selbstmordneigung im Blick auf den englischen Adel um 1700. Es vergißt über der erschöpfenden Rekonstruktion des neuzeitlichen Stimmengewirrs aus Apologie und Verurteilung des Selbstmords nicht die stumme, weitgehend invariante Allgegenwart der prosaischen Selbsttötungen in den illiteraten unteren Volksschichten. Um den Kern der eigenhändigen Selbstauslöschung versammelt es die Vielzahl der "indirekten" Selbstmorde der Märtyrer, Mystiker und Duellanten. Und schließlich verfolgt es den "Wahnsinn" als Entlastungskategorie von der älteren Melancholietradition bis hinein in die Medizin der Aufklärung.
Doch kommt das "schwarze Loch der Vernichtung", von dem Minois spricht, bei allem Reichtum an historischem Material kaum wirklich in den Blick. Allzu schnell werden die literarischen Quellen, die sich ihm zu nähern versuchen, an die Pro- und Contra-Struktur einer Begriffsgeschichte des Selbstmords zurückgebunden. Die Phänomenologie des Selbstmordes, seiner Gesten und Requisiten aus der virtuellen Perspektive dessen, der ihn verübt, bleibt trotz der Berufung auf Hamlet eine auffällige Leerstelle. Entsprechend der These, daß das 19. und 20. Jahrhundert der in der Antike begonnenen, in der Renaissance und in der Aufklärung fortgeführten Debatte über den Selbstmord nichts Substantielles hinzugefügt habe, taucht Jean Amérys Essay "Hand an sich legen" (1976) nicht einmal im Literaturverzeichnis auf.
Das mag, bezogen auf das Arsenal der klassischen Argumente, vertretbar sein. Doch berührt es den Leser eines Buches, in dessen Deutung von Renaissance und Aufklärung Durkheims Krisenbegriff nachhallt, seltsam, wenn er das 20. Jahrhundert nur als Appendix statt als Imperium im Weltreich der Selbsttötung gewürdigt findet.
Georges Minois: "Die Geschichte des Selbstmords". Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1996. 520 S., geb., 59,80 DM.
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