beschriebene Begegnung mit Benn 1942 in Benns Briefwechsel mit Oelze (1976) praktisch unkommentiert blieb. Die seit Lichtenbergs Zeit bestehende Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, die Klemm 1927 als Geschäftsführer des Kröner Verlags erwarb, will das jetzt mit einer Prachtausgabe zu Klemms 45. Todestag ändern.
Dieses Buch, versehen mit einem sorgfältigen Nachwort, ist ein wahres Kleinod: Es enthält 601 Gedichte Klemms aus sechs Jahrzehnten (1908 bis 1968), einige sogar mehrfach, da die neun publizierten Bände in chronologischer Folge originalgetreu wiedergegeben werden. Die Ausstattung in vierhundert numerierten Exemplaren ist ein Fest für Bibliophile - geprägter Leineneinband, 83 teils farbige Graphiken und Vignetten des Dichters, handmarmoriertes Vorsatzpapier. Diese Gediegenheit passt zum erlesenen Inhalt. Den Auftakt bilden die Gedichte aus der "Menschheitsdämmerung", die Klemms einstigen Ruhm begründen. Kurt Pinthus, der noch 1961 eine Neuauflage des Bandes "Aufforderung" (1917) mit einem - hier leider nicht wiedergegebenen - Nachwort versah, nahm sie von dem allzu Scheuen gerne auf. "Meine Zeit", das einzige Sonett des Bandes, steht am Beginn: "namenlos zerrissen" und "daseinsarm im Wissen" nennt Klemm hier seine Zeit, der er doch so weit voraus war. Als er vier Jahrzehnte später in den Gedichten "Der Alte" und "Heute" auf sein Leben - "eine dauernde Erziehung" - zurückblickte, hatte sich frühes Befremden in bewundernswerte Gelassenheit verwandelt: Gegen "das bisschen Sterben" verordnet der promovierte Arzt "Ruhe" und nennt die lange Jugend und das kurze Alter "tröstlich".
Wie für alle seiner Generation war Klemms lange Jugend alles andere als leicht. Einen Namen machte er sich durch "Gloria, Kriegsgedichte aus dem Feld" (1915). Kaum zufällig stammt das einzige Gedicht, das Aufnahme in die "Frankfurter Anthologie" fand, aus dieser Sammlung: "An der Front", gedeutet von Ernst Jandl, dem diese vier Strophen 1941 als Wiener Gymnasiasten verständliche Angst einjagten. Denn Klemms Texte sind Antikriegslyrik. Wie die Dichterärzte Gottfried Benn, Hans Carossa oder Alfred Döblin diente er als Militärarzt und beschrieb wie sie das Elend des Krieges. "Es stinkt nach Blut, Unrat, Kot und Schweiß", heißt es im ersten Gedicht, "Lazarett". Im Jahr darauf steht dieser Titel nochmals über elf Terzetten, die in größter Drastik die Wirklichkeit von eiternden Schusswunden, herausklaffenden Eingeweiden, Amputationen, vom Wimmern und Schreien beleuchten. Am Ende steht Ernüchterung: "Soldatengrab - zwei Latten über Kreuz gebunden". Benns "Morgue"-Zyklus oder Georg Heyms Erzählung "Der kleine Jonathan" erhalten hier neue Gesellschaft, auch wenn diese kurz vor dem Krieg entstanden.
Franz Pfemfert, Herausgeber der Expressionisten, schrieb 1914 an Klemms Frau, die Tochter von Alfred Kröner: "Ich weiß in Deutschland keinen zweiten Lyriker, der noch im tiefsten Blutschlamm die höchste Menschlichkeit so rein fühlt, wie Wilhelm Klemm." Gewiss, der "Krieg war eine Art Erdbeben in seiner Natur", so Peter Suhrkamp in einem Porträt. Doch wäre es falsch, ihn auf dieses Thema zu reduzieren. Klemm ist nicht nur ein sehr formbewusster Lyriker, er schreibt auch über das Dichten selbst. Seine "Sehnsucht" aus dem gleichnamigen Gedicht hat er sich selbst erfüllt: "O Herr, vereinfache meine Worte, / Lass Kürze mein Geheimnis sein." Am liebsten sind ihm drei bis vier frei rhythmisierte, reimlose Quartettstrophen, aber es gibt auch noch kürzere, fast aphoristische Formen. Einen besonders schönen Blick ins Repertoire lyrischen Sprechens gewährt das Gedicht "Verse": Manche Verse taumeln "betrunken hin und her", andere kommen "mit tausend Füßen und tausend Köpfen" daher, oder sie sind "gelähmt und verstümmelt". Am unwiderstehlichsten sind aber solche, die sich "ganz klein wie winzige Krankheitserreger" in unser Bewusstsein einschleichen.
So zeigt sich immer wieder der Dichterarzt. In einem Totentanz-Zyklus aus dem Band "Entfaltung" (1919) schreiten den insgesamt achtzehn auftretenden Figuren die Vertreter der vier Fakultäten Theologie, Jurisprudenz, Philosophie und Medizin voran. Hier wird deutlich, wie sehr Klemms erster Beruf zu seinem abgeklärten, lakonischen, lebensklugen Ton beiträgt. "Der Arzt", der Werden und Vergehen täglich sieht, erteilt wunderbare Lehren über das Altern und Sterben: "Aber die Kunst ist lang und das Leben kurz. / Bedenke das Nächstliegende. Die Natur erfüllt." Der Tod holt nach und nach alle 18 Protagonisten - den Arzt mit dem Argument, selbst "eine menschliche Verrichtung" zu sein, und den Dichter mit dem bestechenden Grund, "das letzte Wort" darzustellen.
Zum völligen Verstummen des Lyrikers Klemm in der Öffentlichkeit zwischen 1922 und 1958 hat sein Band "Die Satanspuppe" (1922) sicher beigetragen. Als Geschäftsführer des Kröner Verlages publizierte er diese Sammlung erotischer Lyrik lieber unter dem Pseudonym Felix Brazil - ausgerechnet dem Namen einer Zigarre. Dass die Öffentlichkeit, insbesondere der Expressionist Oskar Loerke, befremdet auf dieses Buch reagierte und der "humoristischen Zeitungsecke" zurechnete, ist heute kaum noch verständlich. Goethes Priapea sind derber. Keiner der 51 Texte Klemms vermag den Anstand zu verletzen, sie handeln zwar von der körperlichen Liebe - von Wildheit, Rausch und Hingabe, aber doch in vornehmster Kunstform.
Vor allem sind sie völlig frei von jenen sadistischen Phantasien, die Klemms Kollege Döblin etwa in "Der Dritte" (1911) seinem Frauenarzt Converdon zuschreibt: Der will seine Geliebte zur Hündin erniedrigen, skalpieren und zerstören. Wie Döblin in seinem kühlen Kinostil "den raschen Ablauf des Vorgangs" ohne emotionale Herleitung feiert, so folgen auch bei Klemm die Liebenden nicht ohne Ironie der unwiderstehlichen Körperlogik: "Doch da die Rollen des Stückes verlangen, dass wir uns küssen, / Warum schieben wir das unvermeidliche hinaus." Damit sind Klemms Tonlagen noch längst nicht erschöpft. Er versteht sich auf impressionistische Sinnlichkeit wie expressionistische Drastik, auf neusachliche Nüchternheit wie auf surrealistische Assoziation. Keiner Bewegung schloss er sich an, vielmehr folgte er stets seiner inneren Kontinuität. Erstmals ist das jetzt auf solider Textgrundlage zu entdecken.
ALEXANDER KOSENINA
Wilhelm Klemm: "Gesammelte Verse".
Vignetten und Tuschzeichnungen des Autors. Hg. Imma Klemm und Jan Volker Röhnert. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung Mainz 2012. 712 S., geb., 98,- [Euro].
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