Phantasien. Davon hat er reichlich. Schon als Kind stellte er sich selbst als Held vor, der den älteren Knaben, die ihn als "Judski" verspotten, die Polizei auf den Hals hetzt. Doch der kleine Kurt rannte nach Hause. Gerrons Phantasieerzählungen stimmen nie; er erzählt kontrafaktisch. Charles Lewinsky nutzt diese kontrafaktischen Erzählungen als Technik, um das dramatische Schicksal Gerrons zu schildern.
Er wird als Sohn der jüdischen Kaufmannsfamilie Gerson in Berlin geboren, will Arzt werden, wird jedoch im Ersten Weltkrieg verletzt und leidet fortan unter einer Drüsenfunktionsstörung, die zu erheblichem Übergewicht führte. Er verlegt sich auf Bühne und Film. Wegen seines Äußeren muss er regelmäßig die Rolle des Bösewichts spielen. Gerron und die übrige Ufa-Schickeria halten die NSDAP, die "echten Bösewichter", für einen "Trachtenverein" und vertrauen auf Besserung der Verhältnisse. Nur wenige Kollegen, Marlene Dietrich, Brecht und Peter Lorre, der wie Gerron auf undurchsichtige Rollen abonniert ist, wagen den Sprung nach Hollywood. Rühmann reüssiert im nationalsozialistischen Deutschland. Gerron hingegen wird von der NS-Propaganda als Prototyp des hinterhältigen Juden präsentiert.
Er flieht zunächst mit seiner Familie nach Paris und Amsterdam, wo er an der "Schouwbourg" spielt, bis das Ensemble mit Familienangehörigen zunächst in das niederländische Lager Westerbork und dann nach Theresienstadt (und schließlich Auschwitz) deportiert wird. Peter Lorre hatte erfolglos versucht, Gerron nach Amerika zu locken. Auf Heinz Rühmanns Hilfe hingegen hoffte Gerron vergeblich. Rühmann war eben kein guter Mensch, sondern ein NS-Opportunist gewesen, der in einer Rettung des jüdischen "Kumpels" Gefahr für seine Karriere witterte.
Paradoxerweise entpuppt sich in Lewinskys Roman ausgerechnet Gerron als guter Mensch: als die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Er folgt einem Motto mit Bonmot-Qualität: "Ein toter Held ist auch nur eine Leiche." Im Lager stärkt er sein Selbstwertgefühl durch Branchenklatsch: Brecht, der "Luxusproletarier" gilt ihm als karrieresüchtiger Weichling, der die besten Passagen seiner "Dreigroschenoper" von Klabund geklaut hat. Auch der "blaue Engel", Gerrons Freundin Marlene, tat alles für den Ruhm, kaschierte ein Bäuchlein, gab sich lesbisch.
Sein Leben meint Gerron durch ein propagandistisches Filmprojekt zu schützen, das unter dem Titel "Theresienstadt" (oder euphemistisch: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt") in die Geschichte eingegangen ist. Lagerkommandant Karl Rahm betraut Gerron mit der Regie - unter strikter SS-Kontrolle. Gerron liefert. Herauskommt eine Pseudodokumentation über das Leben der jüdischen Insassen in Theresienstadt. Sie ist an die Adresse neutraler Staaten, des Vatikans und des Roten Kreuzes gerichtet und soll die Judenvernichtung verschleiern.
Gerron ging durch den Film als NS-Kollaborateur in die Geschichte ein. Lewinskys Buch nimmt sein moralisches Dilemma zum Anlass, über ihn zu erzählen. Er überdeckt das Dilemma jedoch durch Faszination für den Antihelden Gerron. So stellt sich der Filmdreh perfiderweise als kurzzeitiges Glück der Schauspieler heraus: als eine Chance, dem tristen Lageralltag zu entfliehen. Hier kehrt sich die wirkliche Welt um. Das Gelächter junger Mädchen, das den professionellen Ufa-Regisseur Gerron beim Dreh gestört hätte, erscheint ihm nun als reine Freude. Das Lagerglück aber ist nur von kurzer Dauer: Im Jahr 1944 wurden Gerron und seine Frau Olga in Auschwitz ermordet. Gerrons Theresienstadt-Geschichte ist wichtig, ein Störfaktor für allzu einlinige Opfer-und-Täter-Geschichten. Doch schreibt Lewinsky diesen Störfaktor einfach weg. Gerrons Dilemma wird zur Nebensache einer schillernden Biographie. Ihre Quellen bleiben ebenso im Dunkeln wie die sarkastische, düstere Kultur Theresienstadts. Der Mitinsasse Leo Baeck kommt vor, aber was ist mit H. G. Adler und seinem "Theresienstadt"-Buch?
Bei einem so belasteten Thema wie diesem fällt es schwer, allein auf die Erzählung des später Geborenen Lewinsky zu vertrauen, die scheinbar einnehmend aus der fiktiven Ich-Perspektive Gerrons verfasst ist. "Gerron" erweist sich deshalb als spannender, aber bisweilen seichter und historisch intransparenter Roman. Lewinsky hat großes Kino im Sinn: Hollywood, nicht Theresienstadt.
Charles Lewinsky: "Gerron". Roman.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2011. 540 S., geb., 24,90 [Euro].
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