Stig Dagerman
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Gebranntes Kind
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Bengt, ein junger Mann aus dem Arbeiterviertel Stockholms, der gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, gerät durch den unerwarteten Tod seiner Mutter aus dem Gleichgewicht. Sein Vater Knut hat eine neue Frau kennengelernt, Gun, die im Stadtteilkino Eintrittskarten verkauft. Bengt weigert sich jedoch zu akzeptieren, dass sein Vater eine neue Person in ihren geschützten Alltag einlässt, dass das Leben auch ohne seine Mutter weitergeht. Mit lodernder Eifersucht steigert er sich in die radikale Verurteilung seines Vaters und in die fieberhafte Ablehnung der neuen Frau hinein - und imm...
Bengt, ein junger Mann aus dem Arbeiterviertel Stockholms, der gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, gerät durch den unerwarteten Tod seiner Mutter aus dem Gleichgewicht. Sein Vater Knut hat eine neue Frau kennengelernt, Gun, die im Stadtteilkino Eintrittskarten verkauft. Bengt weigert sich jedoch zu akzeptieren, dass sein Vater eine neue Person in ihren geschützten Alltag einlässt, dass das Leben auch ohne seine Mutter weitergeht. Mit lodernder Eifersucht steigert er sich in die radikale Verurteilung seines Vaters und in die fieberhafte Ablehnung der neuen Frau hinein - und immer deutlicher wird, wie stark er selbst sich zu ihr hingezogen fühlt. In einer intensiven psychologischen Innenschau, die Bengts adoleszente Abgründe sichtbar macht und einem beim Lesen den Atem verschlägt, lässt Stig Dagerman uns teilhaben an den Obsessionen seines Helden, an dessen Verweigerung und unbändiger Wut auf die ganze Welt. Der Feinsinn, mit dem Dagerman seine Figur bis in die verstecktesten Winkel ausleuchtet, zeigt sich auch in der Sprache, die vibriert vor Spannung, schillert zwischen niederdrückender Dunkelheit und hell aufleuchtender Sehnsucht nach Befreiung, zwischen sanftem, fast weinerlichem Selbstmitleid und zerstörerischer, rücksichtsloser Brutalität. Paul Berf navigiert uns Lesende mit seiner beeindruckend standfesten Übersetzung durch die inneren Erschütterungen und Kämpfe des Protagonisten Bengt - Stig Dagerman hat eine unvergessliche, aufwühlende Figur geschaffen, die im Roman keine Versöhnung erfährt und auch nach beendeter Lektüre noch lange keine Ruhe gibt.
Stig Dagerman (1923-1954) wurde in Älvkarleby nördlich von Uppsala als Sohn eines Sprengmeisters und einer Telefonistin geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern väterlicherseits auf dem Land auf, bis er 1931 zu seinem Vater nach Stockholm zog. 1940 wurde sein Großvater von einem Psychopathen erstochen, eine 'Wahnsinnstat', die ihm lebenslang nachging - zumal kurz darauf ein Freund bei einem gemeinsamen Bergurlaub in einem Lawinenunglück ums Leben kam. Dagerman arbeitete nach seinem Abitur für die anarchosyndikalistische Zeitung 'Arbetaren' und debütierte 1945 mit dem Roman 'Die Schlange'. Die kommenden Jahre waren geprägt von exzessiven Schreibphasen und einem kometenhaften Aufstieg, aber auch von Schreibblockaden, schweren Depressionen und existenziellen Krisen. 1943 heiratete er die deutsche Geflüchtete Annemarie Götze, mit der er zwei Söhne hatte und über deren Familie er Zugang zu Deutschland fand. Nach dem Scheitern der Ehe heiratete Dagerman 1953 die bekannte Schauspielerin Anita Björk, mit der er eine Tochter hatte. Mit gerade 31 Jahren nahm er sich 1954 das Leben.
Produktdetails
- Verlag: Guggolz
- Originaltitel: Bränt barn
- Seitenzahl: 299
- Erscheinungstermin: 8. März 2024
- Deutsch
- Abmessung: 195mm x 124mm x 30mm
- Gewicht: 370g
- ISBN-13: 9783945370452
- ISBN-10: 3945370450
- Artikelnr.: 69490133
Herstellerkennzeichnung
Guggolz Verlag
Gustav-Müller-Straße 46
10829 Berlin
verlag@guggolz-verlag.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Intensive Lektüre bekommt Christoph Schröder mit dem neu übersetzten Roman von Stig Dagerman von 1954. Die Geschichte um die Einsamkeit eines jungen Mannes, der nach dem Tod der Mutter tief trauert und sich immer weiter vereinzelt, überzeugt Schröder sowohl mit ihrer Konstruktion, der ständigen Spiegelung von Außen- und Innenwelt, als auch mit seiner mal expressiven, mal kargen Sprache. Ein paar Längen hat das Buch auch, warnt der Rezensent, Wucht und Schmerz darin sind aber ungleich stärker, so Schröder sichtlich beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ödipus auf den Schären
Konfusion der Gefühle: "Gebranntes Kind"
ist ein rätselhafter großer Roman des Schweden Stig Dagerman.
Es lässt sich in diesem schrecklichen, bezaubernden, rätselhaften Buch viel über das Leiden und die Leidensbereitschaft finden. Der Schwede Stig Dagerman (1923 bis 1954) war ein großer Pessimist, über den der französische Schriftsteller Héctor Bianciotti geschrieben hat, er prangere das Böse an und bekämpfe es auf seine Weise, während der Optimist sich bloß darüber wundere. Man hat den jung gestorbenen Dagerman mit Kafka verglichen. Aber bei Dagerman, dem Existenzialisten, gibt es keine außerhalb liegende Macht wie bei Kafka, sondern das Ich ist für sich selbst verantwortlich. Auch
Konfusion der Gefühle: "Gebranntes Kind"
ist ein rätselhafter großer Roman des Schweden Stig Dagerman.
Es lässt sich in diesem schrecklichen, bezaubernden, rätselhaften Buch viel über das Leiden und die Leidensbereitschaft finden. Der Schwede Stig Dagerman (1923 bis 1954) war ein großer Pessimist, über den der französische Schriftsteller Héctor Bianciotti geschrieben hat, er prangere das Böse an und bekämpfe es auf seine Weise, während der Optimist sich bloß darüber wundere. Man hat den jung gestorbenen Dagerman mit Kafka verglichen. Aber bei Dagerman, dem Existenzialisten, gibt es keine außerhalb liegende Macht wie bei Kafka, sondern das Ich ist für sich selbst verantwortlich. Auch
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Aris Fioretos zieht im Nachwort für seine Interpretation des Romans "Gebranntes Kind" einen Kafka-Text heran, "Forschungen eines Hundes". Aber er weist auch auf die Ambivalenz hin: Der Held sei nämlich "ebenso sehr Subjekt wie Objekt in seiner Vivisektion der Existenz".
"Gebranntes Kind", erschienen 1948, spielt in Södermalm, damals noch ein Arbeiterbezirk im Stockholmer Zentrum. Bengt, ein zwanzigjähriger Student, sensibel, beinahe überempfindlich, kommt aus einfachen Verhältnissen, der Lieblingsspruch seines Vaters Knut lautet: "Ich bin nur ein einfacher Möbelschreiner." Damit entzieht er sich jeder Diskussion. Am Anfang des Romans wird seine Ehefrau Alma beerdigt, sie starb beim Einkaufen in der Metzgerei gegenüber ihrer Wohnung an Herzversagen. Knut liebte sie nicht mehr. Er liebt nur, was "schön" ist, genauer wird er nicht. Doch Alma ist in den letzten Jahren "hässlich und krank" geworden. Deshalb hat er bei ihrem Tod "nicht geweint".
Knut zumindest heuchelt nicht, während alle andern auf der Totenfeier nur die trauernden Nachbarn und Verwandten spielen. Es ist Winter. Alles ist kalt, selbst was man hört, ist kalt: "Lautlos fällt das Januarlicht ins Zimmer und schimmert auf allen glänzenden, knarrenden Schuhen, [...] einige Kleider rascheln wie Schritte auf Laub." Man sieht es geradezu vor sich, die Trauergäste sind wie Schemen, die einen Tanz in Zeitlupe tanzen und unheimliche Geräusche verursachen.
Was ist das für ein Stil? Dagerman schreibt parataktisch: eine Feststellung nach der anderen, kaum Nebensätze, fast keine Einschübe. Alles scheint unverrückbar. Sein Ton ist hart, unerbittlich, er verwendet kaum Bilder, und wenn, sind sie fast banal. Er beschreibt, was ist und wie etwas ist, und man erkennt die Situation sofort. Vielleicht hat er bei Schopenhauer gelernt: Gebrauche gewöhnliche Wörter, um Ungewöhnliches zu sagen. Bei seinem Debüt "Die Schlange" (deutsch 1985) hatte man Faulkner als Vorbild genannt, jetzt nennt der Autor selbst einen Namen: Hemingway. Kein Wunder, der merzte alle unnötigen Adjektive aus, der verehrte eine radikal entschlackte Sprache. Aber Dagerman in diesem Roman übertrifft ihn fast noch.
Der Tod der Mutter, für die Bengt mehr empfindet als gängige Sohnesliebe, hinterlässt in ihm ein "großes, leeres Loch", und die Leere hat "mehr Tränen als irgendetwas anderes"; es sind diese sonderbaren Formulierungen, die Dagermans übliche Metaphern unüblich machen. Keiner kann ihn trösten, auch die beiden so verschiedenen Tanten nicht. Dass sie beide lieber recht behalten wollen, als die Wahrheit zu erfahren, verbindet sie. Auch vom Vater kommt kein Trost. Er hat schon seit Langem eine Geliebte, sie heißt Gun. Natürlich will Bengt sie nicht sehen, dabei kennt er sie, sie ist Kartenverkäuferin in einem Kino, in das er hin und wieder mit seiner Freundin Berit geht, einem unscheinbaren Mädchen, dünn und blass und ewig frierend.
Die ödipale Erotik ist unübersehbar. Und Bengt offenbart dabei eine besondere Neigung: Er steht auf Füße. In seiner sinnlichen Trauer öffnet er einen Karton, in dem die Seidenstrümpfe der Mutter verwahrt sind. Er steckt seine Hand hinein und stellt sie sich als den langen schlanken Fuß seiner Mutter vor, "den Fuß der Mutter als junge Frau". Ein "schöner Gedanke", aber auch ein ungehöriger, der ihn "plötzlich unruhig" macht.
Die Liebe zu Alma überträgt sich auf Gun, die Geliebte des Vaters. Bengt hat zu ihr ein zwiespältiges Verhältnis. Er lehnt sie ab und ist doch von ihr angezogen. Er sieht sie, die Ältere, als Mutterersatz, er begehrt sie vielleicht auch deshalb. Auf einer Schäre verbringen Knut und Gun, Bengt und Berit die Mittsommertage, die fangen mit sexuell ziemlich aufgeladenen Sätzen an: "Der Striemen des Kielwassers wird hart und tief, und in dem Loch hinter den Ruderblättern bleibt Schaum liegen und leuchtet." Hier schlafen Bengt und Gun miteinander, unbedacht, hastig, im Stehen anscheinend. Später in Stockholm geht er zu ihr, der Vater ist nicht da. Hier erst scheinen sie sich zum ersten Mal zu begegnen, sie genießen "die Schönheit des Augenblicks [...], die ersten einsamen Minuten mit jemandem, der einen lieben könnte und den man selbst lieben könnte". Hier verändern sich Konstellation und Stil entscheidend. Die harten kurzen Sätze verschwinden, der Ton wird weicher und geschmeidiger. Bengt sucht nicht die "Hysterie der Lust", er liebt Gun "wegen ihrer Ruhe". Nun ist "das Zimmer von ihr gefüllt und von der Mutter geleert". Doch die lässt ihn nicht los. Sein Kopf denkt, er schlafe mit Gun, aber "sein Gefühl weiß, dass es seine Mutter ist, die er nimmt".
In die Geschichte sind sieben Briefe von Bengt eingestreut, vier an sich selbst und je einer an seine Freundin, an Gun und den Vater. Darin attackiert er die "Erfahrung" der Erwachsenen, die nur dazu diene, kindliche Reinheit, Unschuld, Ehrlichkeit zu missachten. In einem anderen Brief steht der schlimme Satz: "Leben heißt nichts anderes, als Tag für Tag seinen Selbstmord aufzuschieben." 1961 schrieb Horst Bienek, Dagerman habe "es nie verwunden, zum Leben verurteilt zu sein". Schon in "Die Schlange" hieß es: "Muss Dichter sein nicht heißen, eine Angst zu besitzen, die größer ist als die aller anderen auf der Welt?"
Das Verdienst des Guggolz Verlags ist nicht immer die Entdeckung, das gilt für Dagerman wie für Tarjei Vesaas, den anderen großen Skandinavier des Verlags. Beide waren bei uns schon seit Langem bekannt und gewürdigt. Aber durch die Neuübersetzungen ihrer Bücher trägt Guggolz dazu bei, dass solche Autoren sich im Bewusstsein der Leser festsetzen und bleiben. PETER URBAN-HALLE
Stig Dagerman:
"Gebranntes Kind".
Roman.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2024.
302 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Gebranntes Kind", erschienen 1948, spielt in Södermalm, damals noch ein Arbeiterbezirk im Stockholmer Zentrum. Bengt, ein zwanzigjähriger Student, sensibel, beinahe überempfindlich, kommt aus einfachen Verhältnissen, der Lieblingsspruch seines Vaters Knut lautet: "Ich bin nur ein einfacher Möbelschreiner." Damit entzieht er sich jeder Diskussion. Am Anfang des Romans wird seine Ehefrau Alma beerdigt, sie starb beim Einkaufen in der Metzgerei gegenüber ihrer Wohnung an Herzversagen. Knut liebte sie nicht mehr. Er liebt nur, was "schön" ist, genauer wird er nicht. Doch Alma ist in den letzten Jahren "hässlich und krank" geworden. Deshalb hat er bei ihrem Tod "nicht geweint".
Knut zumindest heuchelt nicht, während alle andern auf der Totenfeier nur die trauernden Nachbarn und Verwandten spielen. Es ist Winter. Alles ist kalt, selbst was man hört, ist kalt: "Lautlos fällt das Januarlicht ins Zimmer und schimmert auf allen glänzenden, knarrenden Schuhen, [...] einige Kleider rascheln wie Schritte auf Laub." Man sieht es geradezu vor sich, die Trauergäste sind wie Schemen, die einen Tanz in Zeitlupe tanzen und unheimliche Geräusche verursachen.
Was ist das für ein Stil? Dagerman schreibt parataktisch: eine Feststellung nach der anderen, kaum Nebensätze, fast keine Einschübe. Alles scheint unverrückbar. Sein Ton ist hart, unerbittlich, er verwendet kaum Bilder, und wenn, sind sie fast banal. Er beschreibt, was ist und wie etwas ist, und man erkennt die Situation sofort. Vielleicht hat er bei Schopenhauer gelernt: Gebrauche gewöhnliche Wörter, um Ungewöhnliches zu sagen. Bei seinem Debüt "Die Schlange" (deutsch 1985) hatte man Faulkner als Vorbild genannt, jetzt nennt der Autor selbst einen Namen: Hemingway. Kein Wunder, der merzte alle unnötigen Adjektive aus, der verehrte eine radikal entschlackte Sprache. Aber Dagerman in diesem Roman übertrifft ihn fast noch.
Der Tod der Mutter, für die Bengt mehr empfindet als gängige Sohnesliebe, hinterlässt in ihm ein "großes, leeres Loch", und die Leere hat "mehr Tränen als irgendetwas anderes"; es sind diese sonderbaren Formulierungen, die Dagermans übliche Metaphern unüblich machen. Keiner kann ihn trösten, auch die beiden so verschiedenen Tanten nicht. Dass sie beide lieber recht behalten wollen, als die Wahrheit zu erfahren, verbindet sie. Auch vom Vater kommt kein Trost. Er hat schon seit Langem eine Geliebte, sie heißt Gun. Natürlich will Bengt sie nicht sehen, dabei kennt er sie, sie ist Kartenverkäuferin in einem Kino, in das er hin und wieder mit seiner Freundin Berit geht, einem unscheinbaren Mädchen, dünn und blass und ewig frierend.
Die ödipale Erotik ist unübersehbar. Und Bengt offenbart dabei eine besondere Neigung: Er steht auf Füße. In seiner sinnlichen Trauer öffnet er einen Karton, in dem die Seidenstrümpfe der Mutter verwahrt sind. Er steckt seine Hand hinein und stellt sie sich als den langen schlanken Fuß seiner Mutter vor, "den Fuß der Mutter als junge Frau". Ein "schöner Gedanke", aber auch ein ungehöriger, der ihn "plötzlich unruhig" macht.
Die Liebe zu Alma überträgt sich auf Gun, die Geliebte des Vaters. Bengt hat zu ihr ein zwiespältiges Verhältnis. Er lehnt sie ab und ist doch von ihr angezogen. Er sieht sie, die Ältere, als Mutterersatz, er begehrt sie vielleicht auch deshalb. Auf einer Schäre verbringen Knut und Gun, Bengt und Berit die Mittsommertage, die fangen mit sexuell ziemlich aufgeladenen Sätzen an: "Der Striemen des Kielwassers wird hart und tief, und in dem Loch hinter den Ruderblättern bleibt Schaum liegen und leuchtet." Hier schlafen Bengt und Gun miteinander, unbedacht, hastig, im Stehen anscheinend. Später in Stockholm geht er zu ihr, der Vater ist nicht da. Hier erst scheinen sie sich zum ersten Mal zu begegnen, sie genießen "die Schönheit des Augenblicks [...], die ersten einsamen Minuten mit jemandem, der einen lieben könnte und den man selbst lieben könnte". Hier verändern sich Konstellation und Stil entscheidend. Die harten kurzen Sätze verschwinden, der Ton wird weicher und geschmeidiger. Bengt sucht nicht die "Hysterie der Lust", er liebt Gun "wegen ihrer Ruhe". Nun ist "das Zimmer von ihr gefüllt und von der Mutter geleert". Doch die lässt ihn nicht los. Sein Kopf denkt, er schlafe mit Gun, aber "sein Gefühl weiß, dass es seine Mutter ist, die er nimmt".
In die Geschichte sind sieben Briefe von Bengt eingestreut, vier an sich selbst und je einer an seine Freundin, an Gun und den Vater. Darin attackiert er die "Erfahrung" der Erwachsenen, die nur dazu diene, kindliche Reinheit, Unschuld, Ehrlichkeit zu missachten. In einem anderen Brief steht der schlimme Satz: "Leben heißt nichts anderes, als Tag für Tag seinen Selbstmord aufzuschieben." 1961 schrieb Horst Bienek, Dagerman habe "es nie verwunden, zum Leben verurteilt zu sein". Schon in "Die Schlange" hieß es: "Muss Dichter sein nicht heißen, eine Angst zu besitzen, die größer ist als die aller anderen auf der Welt?"
Das Verdienst des Guggolz Verlags ist nicht immer die Entdeckung, das gilt für Dagerman wie für Tarjei Vesaas, den anderen großen Skandinavier des Verlags. Beide waren bei uns schon seit Langem bekannt und gewürdigt. Aber durch die Neuübersetzungen ihrer Bücher trägt Guggolz dazu bei, dass solche Autoren sich im Bewusstsein der Leser festsetzen und bleiben. PETER URBAN-HALLE
Stig Dagerman:
"Gebranntes Kind".
Roman.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2024.
302 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Stockholm, in den 1940er-Jahren: Während der 20-jährige Bengt um seine heißgeliebte Mutter trauert, tröstet sich sein Vater Knut längst mit einer neuen Frau. Die Kinokartenverkäuferin Gun erbt nicht nur Almas rotes Kleid, das dieser ohnehin nie passte, sondern auch die …
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Stockholm, in den 1940er-Jahren: Während der 20-jährige Bengt um seine heißgeliebte Mutter trauert, tröstet sich sein Vater Knut längst mit einer neuen Frau. Die Kinokartenverkäuferin Gun erbt nicht nur Almas rotes Kleid, das dieser ohnehin nie passte, sondern auch die Liebe des Schreiners. Doch Bengt lehnt die neue Frau an der Seite des Vaters strikt ab. Als er gemeinsam mit seiner Freundin Berit an einem familiären Trip auf die Schären teilnimmt, brechen sich die Emotionen Bahn...
"Gebranntes Kind" ist ein Roman des Autors Stig Dagerman (1923 - 1954), der im schwedischen Original 1948 erschienen ist. 1967 wurde er verfilmt (deutscher Titel: Ich - seine Geliebte), 1983 sowohl in der BRD, als auch in der DDR erstmals ins Deutsche übersetzt. Nun ist bei Guggolz eine deutsche Neuübersetzung von Paul Berf erschienen, die durch ein kompaktes und informatives Nachwort des schwedischen Schriftstellers Aris Fioretos komplettiert wird. Nach "Deutscher Herbst" ist "Gebranntes Kind" bereits das zweite Werk Dagermans bei Guggolz. Kein Wunder, passt "Bränt barn", so der Originaltitel, in seiner Mischung aus sprachlicher Extravaganz und ambivalenter Figurenzeichnung doch ganz hervorragend in das Guggolz-Beuteschema, wie beispielsweise im letzten Jahr auch Tom Kristensens "Absturz".
Wobei "Gebranntes Kind" tatsächlich noch stärker polarisieren dürfte, denn es ist ein durch und durch unbequemer Roman. Das beginnt mit den kurzen, stakkatohaften Sätzen, die Dagerman seinen Leser:innen förmlich um die Ohren haut, mischt sich mit pathetischen Briefen der Hauptfigur und mündet schließlich in einem Protagonisten, der vor physischer und psychischer Gewalt gegen Frauen und Tiere nicht zurückschreckt. Ständig arbeitet Dagerman zudem mit Symbolen und Gegensätzen wie "schön" und "hässlich", die man schon nach dem ersten Kapitel als anstrengend empfindet.
Womit wir beim großen "Aber" wären. Denn die kurzen Sätze, die - einem Schüleraufsatz gleich - gern auch mit "Und" oder "Dann" beginnen, sind so voller Tiefe, dass man beim ersten Lesen kurz zusammenzuckt. "Der Sohn ist zwanzig und nichts", heißt es an einer Stelle, an einer anderen "die Welt fürchtet den, der weint". Das ist schmerzhaft und klug. Die Briefe sind nicht nur pathetisch, sondern zerbersten fast vor lauter Emotionalität, die bisweilen an die biblischen Propheten erinnert. Gekonnt setzt Dagerman mit ihnen eine Art Kontrapunkt zu den nüchtern anmutenden Erzählpassagen, die sich nicht einmal trauen, die Namen der Figuren zu nennen. Meisterlich ändert sich in ihnen der Tonfall zur Stimmung von Hauptfigur Bengt. Die Briefe "von ihm selbst an ihn selbst" sind zunächst voller Trauer über die Mutter und Wut auf den Vater, die Freundin, ach eigentlich die ganze Welt. Später öffnet sich Bengt und schreibt "an eine junge Frau" und gar "an eine Insel", und Teile dieses letzten Briefes erinnern in ihrer überbordenden Zärtlichkeit an den Sturm und Drang, vielleicht an eine Art "Werther 2.0".
"Gebranntes Kind" ist ein forderndes und herausforderndes Werk, das nicht gefällig ist, aber auch gar nicht gefallen will. Es ist schmerzhaft und schrecklich. Und dennoch ist es ein großes Buch, das mit bemerkenswerter Präzision das Innenleben eines Charakters emotional und stilistisch so außergewöhnlich kunstvoll präsentiert. Bengt trägt das gesamte Buch, es gibt keine Szene, die ohne ihn auskommt. Wenn er leidet, leidet der Roman. Wenn er liebt, blüht der Roman auf. Er dürfte eine der wohl widersprüchlichsten Hauptfiguren der Literaturgeschichte sein, ein klassischer Antiheld. Es fällt leicht, ihn auf den ersten Blick zu hassen. Doch betrachtet man sein Innenleben - und das ist bei der Lektüre unabdingbar - erkennt man die Zerrissenheit dieses jungen Mannes, seinen wahrhaftigen Schmerz über den Verlust der Mutter, seine Gefühle, von denen er nicht weiß, wohin damit.
Es ist eine kühne Entscheidung Stig Dagermans, einen solchen Protagonisten erschaffen zu haben, der vornehmlich auf Ablehnung stoßen wird, ohne ihm eine ebenbürtige positiv besetzte Figur entgegenzusetzen. Liest man aber die biographischen Angaben zu Dagerman im Anhang und im Nachwort, so konnte es eigentlich keine andere Entscheidung geben. Denn unglückliche Todesfälle, Schreibblockaden und schließlich der Suizid sechs Jahre nach Erscheinen des Romans machen aus Dagerman selbst ein "gebranntes Kind".
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Intensiv und verstörend
Der schwedische Autor Stig Dagerman, der sich mit 31 Jahren das Leben nahm, veröffentlichte „Gebranntes Kind“ im Jahr 1948. Nun hat der Guggolz Verlag den Text in einer neuen Übersetzung von Paul Berf neu herausgegeben. Ein informatives Nachwort …
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Intensiv und verstörend
Der schwedische Autor Stig Dagerman, der sich mit 31 Jahren das Leben nahm, veröffentlichte „Gebranntes Kind“ im Jahr 1948. Nun hat der Guggolz Verlag den Text in einer neuen Übersetzung von Paul Berf neu herausgegeben. Ein informatives Nachwort des Schriftstellers Aris Fioreto bietet auf wenigen Seiten hilfreiche Ansatzpunkte zum Verständnis.
Der Roman setzt kurze Zeit vor einer Beerdigung ein. Bengts Mutter ist tot. Sie brach in der dem Wohnhaus gegenüberliegenden Metzgerei zusammen und starb. In einer zunächst sezierenden, stakkatoartig anmutenden Sprache richtet Dagerman den Blick auf den zwanzigjährigen Bengt, seinen Vater und seine beiden Schwestern, die sich in der Wohnung für die Beerdigung zurechtmachen. Wir begleiten Bengt und seinen Vater zur Beisetzung und nehmen an zentralen Geschehnissen im Jahr nach dem Tod der Mutter bzw. Ehefrau teil. Vater und Sohn trauern unterschiedlich. Sie belauern und belügen sich. Bengt ist in seiner Trauer und seinem Wesen äußerst ambivalent. Er fühlt sich moralisch überlegen, obwohl er weder zu seinem Vater noch zu seiner Freundin ehrlich ist und zu Gewaltausbrüchen neigt. Bereits vor dem Tod seiner Frau hatte der Vater eine Geliebte, die dieser nun gerne als „Ersatzmutter“ für seinen Sohn sehen würde. Bengt möchte diese Frau hassen, schmiedet Rachepläne, fühlt sich zugleich aber magisch angezogen. Sie wird für ihn Geliebte und Mutter zugleich.
Zahlreiche Szenen im Text haben etwas Kafkaeskes. Die Protagonist:innen wirken alle auf ihre Weise gestört, einsam und verloren. Dagermans Sprache wechselt zwischen äußerst reduzierten, knappen Sätzen mit zahlreichen Wortwiederholungen und poetisch dahinfließenden, zärtlichen Passagen. Der gesamte Text ist unglaublich dicht und reich an Symbolik, die es zu entschlüsseln gilt.
Mich hat dieser Roman ungemein fasziniert und ich bin froh, diesen zeitlosen, literarisch anspruchsvollen Text entdeckt zu haben, der die Zerrissenheit des Hauptprotagonisten, aber auch die Einsamkeit der anderen so hautnah erfahren lässt.
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