ostpreußischen Allenstein ging zum Studium nach Berlin und München und traf dort in einer Zeit des Umbruchs auf reiche Anregungen: In München, wo er 1912 sein Architekturstudium abschloss und mit dem Blauen Reiter auf die Bühne der Bildenden Kunst galoppierte, wäre Mendelsohn nach Erfolgen als Designer, Bühnen- und Kostümbildner beinahe der Baukunst verloren gegangen. Zurückgekehrt zur Architektur und nach Berlin, wurde er eminent erfolgreich.
Jugendstil, Abstraktion und Expressionismus waren formale, die industrielle Technik und Produktionsweise inhaltliche Zutaten seiner künstlerischen Rezepturen. Durch die Zäsur seines Kriegsdienstes und das Mitwirken im novemberrevolutionären "Arbeitsrat für Kunst" entwickelte sich ein ausdrucksstarkes Architektur-Amalgam von selten mimetischer Elastizität. Einsteins Gravitations- und Relativitätstheorie wurde Auslöser der Baumeister-Karriere: "Masse braucht Licht, Licht bewegt die Masse", jubelte der junge Architekt, der den Einsteinturm von Potsdam baute.
Neben Hans Poelzigs Berliner Schauspielhaus prominentestes Exempel expressionistischen Bauens, markiert das Observatorium zugleich das Ende einer (nie kodifizierten) reinen Lehre: Huldigen manche mit dem Einsteinturm einer dynamischen Metapher der Moderne, schmähen ihn andere als marktschreierisches Monument eines fossilen Symbolismus. Ambivalent selbst sein Schöpfer, der das Bauwerk getreu seiner "Gedanken zur neuen Architektur" konzipiert hatte: Der Schwung der neuen Zeit müsse sich manifestieren in der Organisation von Raum und seiner Darstellung und das unter Verwendung moderner Materialien - Stahl, Glas, Beton -, deren gezielter Einsatz Masse und Licht als Konstituenten aller architektonischen Erscheinung erst zeitgemäß zu inszenieren imstande sei.
Sein zweiter wegweisender Bau war die Hutfabrik in Luckenwalde. Erste Entwürfe und ein daraus erwachsener Teil-Neubau entsprachen noch dem formalistischen Funktionalismus à la Walter Gropius' Alfelder Fagus-Werken. Erst der zweite Anlauf bändigt die Extreme. Aus den aufeinander abgestimmten Abläufen von Produktion, Verwaltung, Versand schneidert Mendelsohn den Hutmachern eine Architecture parlante: die Hallen von längs gerippten Ziegelbändern gefasst, den Dunstabzug über der Färberei zu einer abstrakten Skulptur mit assoziativen Zeichen eines Hutes modelliert. Hoch aufragend über Entree und Produktionshallen wurde er zum weithin sichtbaren Signet einer architektonischen Corporate Identity. Expressionistisches Ungestüm, gebändigt von materialen und wirtschaftlichen Zwängen, geläutert in ästhetischen Sehschulungen - eben fünfunddreißigjährig gebot Mendelsohn über ein Repertoire, das er als "funktionelle Dynamik" klassifizierte.
So unscharf dieses Begriffspaar scheint, so trefflich charakterisiert es doch den holistischen Ansatz Mendelsohns. Dem Kontext räumt er gegenüber der Raumgestaltung denselben Stellenwert ein. Ob Einfamilienhaus oder Fabrik - Mendelsohn untersuchte jeden Standort von jeder Perspektive aus. 1923 gebeten, für das britische Protektorat Palästina einen Staudamm samt Kraftwerk und Siedlung am Jordan zu entwerfen, antwortet er, dass "es mir unmöglich sei, ohne Kenntnis von Land und Luft Entwürfe zu machen". Obwohl Land und Luft Palästinas noch im selben Jahr von ihm inspiziert wurden, kam der Auftrag nicht zustande. Gleichwohl suchte Mendelsohn als Anhänger des Zionismus nach Möglichkeiten, dort zu leben und zu arbeiten. Noch aber offerierte Deutschland die sichereren Pfründen. In den ihm bis 1933 verbleibenden zehn Jahren avancierte Mendelsohn zum meistbeschäftigten Architekten des Landes, dessen Büro mit etwa vierzig Mitarbeitern zu den größten Europas zählte.
England bot Mendelsohn dann erste Zuflucht vor den Nazis. Mit dem De-la-Warr-Pavillon in Bexhill-on-Sea schenkte der im britischen Exil mit Serge Chermayeff assoziierte Emigrant der neuen Heimat einen fortschrittstrunkenen Bau. Bald aber wandert er weiter nach Palästina und baut dort Villen, Krankenhäuser, Universitäten. Und er gerät mit kritischen Anmerkungen zu einem ihm als Menetekel erscheinenden Chauvinismus der zionistischen Bewegung ins Visier der Eiferer. 1941 wurde "the only born revolutionary (architect) of his generation" in den Vereinigten Staaten begrüßt.
Plastisch präsentieren die von Regina Stephan herausgegebenen "Gebauten Welten" Leben und Werk dieses lange Zeit verkannten Erneuerers der Architektur. Die in den Sechzigern einsetzende Evaluierung und damit einhergehende Renaissance des Mendelsohn'schen OEuvres ist nicht zuletzt dem Doyen der italienischen Architekturgeschichtsschreibung, Bruno Zevi, und dessen 1970 erschienenem Werkverzeichnis Mendelsohns zu danken, das nun in revidierter und erheblich erweiterter Neuausgabe vorliegt. Im Duo zeichnen die beiden Monographien ein klar konturiertes Profil von Erich Mendelsohn und seiner phänotypischen Architektur.
WERNER JACOB
Regina Stephan (Hrsg.): "Erich Mendelsohn". Gebaute Welten. Mit Beiträgen von Charlotte Benton, Ita Heinze-Greenberg, Kathleen James, Hans R. Morgenthaler, R. Stephan. Gert Hatje Verlag, Ostfildern-Ruit 1998. 344 S., 343 Abb., geb., 128,- DM.
Bruno Zevi (Hrsg.): "Erich Mendelsohn - The Complete Works". With biographical notes of Louise Mendelsohn. Birkhäuser Verlag, Basel 1999. 560 S., 2342 Schwarzweißabb., geb., 238,- DM.
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