die Gegenwart. Historikerinnen und Historiker haben sich bisher schon eingehend mit Episoden der katholischen Diplomatiegeschichte, wie etwa dem "Friedenspapst" Benedikt XV. im Ersten Weltkrieg oder dem Schweigen von Pius XII. während der Schoa, auseinandergesetzt. Ernesti legt nun erstmals eine Darstellung vor, die den Leser durch eine hundertfünfzigjährige Geschichte führt.
Der Einstieg von Ernestis Untersuchung ist nicht zufällig gewählt, denn das Jahr 1870 steht für eine Zeitenwende im Vatikan. Einerseits markierten das Risorgimento und die Gründung des italienischen Nationalstaats das Ende des territorialen Kirchenstaats. Andererseits zwang diese Entwicklung die Päpste in den folgenden Jahrzehnten auch, ihr Selbstverständnis in der Weltpolitik grundlegend neu zu überdenken. Parallel zu dem politischen und territorialen Machtverlust kam es - durchaus paradox - innerkirchlich zu einer Stärkung der päpstlichen Zentralgewalt. Mit dem Amtsantritt von Leo XIII. 1878 verortet Ernesti zudem den Beginn einer außenpolitischen Erneuerung und eines "Zeitalters der Diplomatenpäpste". Leo XIII. war nicht nur der erste Papst seit dem Mittelalter, der keinen eigenen Staat mehr hatte (die Lateranverträge von 1929, welche die vatikanische Souveränität regeln sollten, waren noch nicht geschlossen). Er war auch der "Begründer der modernen vatikanischen Außenpolitik". Tatsächlich leiteten dann bis 1978 - sprich bis Johannes Paul II. - vor allem Männer die Kirche, die eine diplomatische Ausbildung genossen hatten.
Ernesti hebt besonders die Bedeutung der päpstlichen Diplomatenakademie hervor und schildert, wie gerade die Auflösung des territorialen Kirchenstaats das Papsttum zu einer Institution der internationalen Friedensvermittlung werden ließ. Während die politischen und kirchenrechtlichen Hintergründe dieser Entwicklung analysiert werden, führt Ernesti den Leser an wichtige Grundbegriffe sehr behutsam heran. Gut verständlich werden so etwa die Unterschiede zwischen dem Staat der Vatikanstadt als kleinstem Staat der Erde und dem "Heiligen Stuhl" als nichtstaatlichem Völkerrechtssubjekt dargelegt.
Im ersten Teil des Buchs widmet sich Ernesti der Frage, wie vatikanische Außenpolitik überhaupt zu beschreiben ist. Auf der einen Seite pflegt der Vatikan diplomatische Beziehungen als souveräner Staat. Auf der anderen Seite kann die katholische Kirche jedoch auch als "non-governmental actor" verstanden werden, der über Diözesen und Pfarreien auch auf lokaler Ebene Einfluss ausübt. Hinzu kommen Schulen, Universitäten und andere Bildungs- und Sozialeinrichtungen, durch welche die Kirche "zwischen" beziehungsweise "über" den Staaten agiert. In seiner Geschichte war der Vatikan dabei jedoch nicht immer neutral, sondern bezog in großen weltpolitischen Konflikten regelmäßig klar Stellung. Während Stalin einmal spöttisch gefragt haben soll, wie viele Divisionen der Papst denn befehlige, zeigte der Besuch von Johannes Paul II. einige Jahrzehnte später in Polen eindrucksvoll, welcher politische Einfluss sich dort durch den Katholizismus entfalten ließ.
Das Buch führt durch eine sehr wechselvolle Geschichte, ohne dabei Kontinuitäten aus dem Blick zu verlieren. Dass es "einen roten Faden in der Außenpolitik der Päpste" gegeben habe, sieht Ernesti als "unverkennbar gegeben". Insbesondere betont er das stetige Bemühen des Vatikans um Frieden, internationale Entspannung und Abrüstung. In einem Gang durch die Jahrzehnte erfährt der Leser dabei nicht nur von Friedensinitiativen während der Weltkriege, sondern auch von weniger bekannten diplomatischen Vorstößen. Wer erinnert sich etwa noch heute daran, dass der Heilige Stuhl schon 1895 gegen die Unterdrückung der Armenier im Osmanischen Reich protestierte? Wer kennt noch die Bedeutung vatikanischer Vermittlung in der Kubakrise von 1962? Gerade weil das Buch in schnellem Tempo von einem Fallbeispiel zum nächsten springt, gewinnt der Leser einen Überblick über die Konstanten der päpstlichen Politik vom konfessionellen Kulturkampf der Bismarck-Zeit bis zum Mauerfall, von den Kolonialkonflikten des neunzehnten Jahrhunderts bis zum jüngsten Irakkrieg.
In einer derart breit angelegten Untersuchung ist es nicht immer leicht, zu einem nuancierten Verständnis von geschichtlichen Brüchen und Entwicklungen zu gelangen. Ernesti beschäftigt sich nur am Rande mit der Frage, wie der Vatikan einige seiner politischen Grundhaltungen umkehren und überdenken konnte. Bemerkenswert scheint im Rückblick beispielsweise, dass die katholische Kirche innerhalb weniger Jahrzehnte ihre Unterstützung für koloniale Regime aufgab und stattdessen Entkolonialisierungsbewegungen in Afrika immer offener zu unterstützen begann. Ebenso erstaunlich ist, wie schnell Pius XII., der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts den Liberalismus und den westlichen "Materialismus" stets abgelehnt hatte, nach dem Krieg seine Ansichten über die Demokratie änderte.
Jörg Ernesti blendet diese Probleme und Widersprüche der neueren Kirchengeschichte keineswegs aus. Klar ist jedoch, dass er dem Leser vor allem eine katholische Perspektive bietet. Nichtsdestotrotz sollte diese Studie auch bei Nichtkatholiken auf großes Interesse stoßen. Sie eröffnet einen ganz eigenen Blick auf langfristige Trends. Eine kluge Auswahl von Anekdoten und historischen Details macht sie dabei wunderbar lesbar. SIMON UNGER-ALVI
Jörg Ernesti: "Friedensmacht". Die vatikanische Außenpolitik seit 1870.
Herder Verlag, München 2022. 368 S., geb., 34,- Euro.
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