vor allem als selbstbewusster Prager Bürger österreichischer Staatsbürgerschaft, für den die Verteidigung der "Assimilationsheimat" mit der Waffe eine ernsthaft erwogene Option gewesen sei. Wenn Neumann den Bewunderer Napoleons als "Gesellschaftskrieger" etikettiert, so nimmt er ihn metaphorisch für die eigene kriegerisch vorgetragene These in Anspruch, dass die Auseinandersetzung mit der damaligen Prager Wirklichkeit wie mit der Realität des Weltkriegs für Kafkas Schreiben "hochwichtig" gewesen ist.
Das Besondere dieser Biographie soll daher darin bestehen, dass Kafka in den ihm zugehörigen "Hallraum" zurückversetzt wird, in die Polyphonie zeitgenössischer Stimmen. Das ergibt in der Tat ein Stimmengewirr, das sich in einem typographisch ziemlich chaotischen Text (mit zahlreichen Druckfehlern) niederschlägt. Die Schlüsse, die suggestiv oder explizit aus solcher Kontextualisierung gezogen werden, sind heterogen, oft abwegig und willkürlich, nicht selten geschmacklos. Um Kafka im Gegensatz zu seinen Vorgängern eine geglückte sexuelle Initiation zu bescheinigen, zieht Neumann einen lächerlich im Ekelhaften stochernden autobiographischen Text von Fritz J. Raddatz heran. Wie sich das zu dem Traum verhält, die "originale Stimme des Objekts" vernehmbar zu machen, bleibt das Geheimnis des analogieversessenen Biographen, der krampfhaft alles anders sehen will.
Mit der posthistoristischen Formel "So muss es gewesen sein" werden auch Gerüchte zum reichgeschmückten Inventar des biographischen Hauses. Grete Blochs Gefühle beim Tod ihres Siebenjährigen, der nach Neumanns Überzeugung auch Kafkas Sohn war, sollen dem Leser durch eine peinlich kitschige Passage aus Franz Werfels "Verdi"-Roman nahegebracht werden.
Was Wagenbach und anderen als "Mystifikation" galt, wird zu einer biographischen Aussage, mit der Neumann offenbar die hypertrophe Kafka-Deutung übertrumpfen will: "Der ewige Sohn Franz Kafka verlor darin eine vorübergehende Vaterschaft, ohne sie vorher überhaupt wirklich wahrgenommen zu haben. Vor dem Vater stirbt der Sohn." Obwohl Neumann überzeugt ist, dass Kafka kein Christ war, sondern dem Weimarer Spinozismus anhing, wird die Anspielung auf Thomas Brasch mit dem Tod Christi hinterlegt, der den Ruhm des Vaters unverlöschlich aufzucken lässt. Irgendwie prophetisch ist es am Ende aber dann wieder Kafka selbst, der vor dem Vater stirbt, während sich sein "finaler Navigator an der Venus als dem hellsten Stern" orientiert. Das erscheint dem Biographen "sicher".
Besonders interessiert nämlich zeigt sich Neumann "in sexualibus". Ihm liegt viel daran, Kafka als einen auch erotisch Selbstbestimmten zu zeigen, der sich seiner Wirkung auf Frauen sicher war und sich in "orgiastischen Strömen" vitalisierte. Bei den Huren aber, so weiß der Biograph, suchte Kafka Trost und Wärme. Einerseits soll er nicht zu den behandlungsbedürftigen Kranken des Wiener Seelendoktors gehört haben, andererseits wimmelt es bei Neumann nur so von vulgärpsychologischen Diagnosen. In sonderbarer Adaption der Sexualpathologie des neunzehnten Jahrhunderts soll Kafkas "onanistische Besessenheit des Nachtschreibens" zur Schwächung des Immunsystems, also zur Krankheit, geführt haben. In Professor Neumanns Mythen- und Metapherngestöber verwandelt sich das Nachtschreiben schließlich "zur letzten noch singenden Sirene im Manöverleben des schreibenden Beamten Franz Kafka, der tagsüber immer noch seinen gesellschaftlichen Kriegsdienst leistete ... als ein wahrer Sisyphus der Existenzbewältigung durch Schreiben".
Bernd Neumanns Biographie enthält zweifellos auch subtile Deutungen, aber der hochwichtige Überbietungsstil, die Metaphernketten und preziösen Kategorien, die überhebliche Auseinandersetzung mit der Forschung und dauernd wiederholte vollmundige Sentenzen machen die Lektüre zur Qual. Auch handwerklich ist das Buch ein Desaster. Der ohnehin leichtfertige Umgang mit den Quellen wird durch unübersichtlich zusammengedrängte Endnoten, die auf eine im typographisch vermurksten Haupttext nicht vorhandene Zeilenzählung verweisen, zusätzlich undurchschaubar. Für Lektorierung und Beratung hat der Verlag offensichtlich nicht gesorgt, für Reklame schon.
Ein "völlig neuer Kafka" aber ist nicht ersichtlich. Diese Biographie ist nicht das Haus des eleganten, aber des Wohnkomforts nicht bedürftigen Pragers, vielmehr das von Bernd Neumanns Jargon der Uneigentlichkeit. Der geneigte Leser hat in diesem überladenen Interieur nichts zu suchen. Er wird je nach Temperament bei Rainer Stach oder Peter-André Alt anklopfen wollen.
FRIEDMAR APEL
Bernd Neumann: "Franz Kafka. Gesellschaftskrieger". Eine Biographie. Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 666 S., geb., 39,90 [Euro].
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