beschreibt und richtet ihn ebenso unaufhörlich. So wurde Florenz die Heimat der politischen Doktrinen und Theorien, der Experimente und Sprünge, aber auch ...vor allen Staaten der Welt die Heimat der geschichtlichen Darstellung im neueren Sinne." Doch habe schon Dante die Schattenseite des ständigen Experimentierens mit der Verfassung umrissen und es mit einem Kranken verglichen, der sich beständig umwälze, um seine Schmerzen zu lindern. Bis zu Machiavelli, der Zeit nach Lorenzo de Medicis Tod (1492), sei der "große moderne Irrtum, daß man eine Verfassung machen, durch Berechnung der modernen Kräfte und Richtungen neu produzieren könne", immer wieder aufgetaucht.
Vor allem die "goldene Zeit" des politischen Gleichgewichts und der kulturellen Blüte in Italien nach 1454 und ihre Ablösung durch die habsburgische Hegemonie nach dem Zug Karls von Frankreich nach Neapel (1494) und dem Sacco di Roma (1527) hat, mit Machiavelli als Kulmination, die Verfassungsentwürfe und die Ursachenforschung der Historiker angeregt. In diesem Sinne war Francesco Guicciardini (1483 bis 1540), Sproß eines der führenden Geschlechter, eine exemplarische Gestalt. Obwohl er zur Klientel der Medici - jener in Florenz und später auf dem Papstthron - gehörte, sah er sich als "Insider der Macht" zur kritischen Analyse des politischen Systems befähigt, durch Traktate und in Aphorismen, in "Dialogi" und im "Discorso", vor allem als Historiograph mit dem Alterswerk der "Storia d'Italia".
Bisher hat vor allem Felix Gilbert, Professor in Princeton (gestorben 1991), das Werk Guicciardinis erhellt. Gilbert behandelte Machiavelli und Guicciardini in einer Paralleldarstellung, die sich auf die Zeit des "governo libero" konzentriert, als die Medici vertrieben waren und mit neuen Formen der "Volksherrschaft" experimentiert wurde (1494 bis 1512). Gilbert erkannte, daß Guicciardini die erste Geschichte Italiens ohne heilsgeschichtliche Ausrichtung verfaßt hat. Wenn der Historiker Volker Reinhardt nun eine Werkbiographie des Florentiner Autors vorlegen wollte, dann mußte es ihm über Gilbert hinaus um eine Gesamtdeutung der Texte "im organischen Zusammenhang ihrer Entwicklung" und vor dem Hintergrund "eines wahrhaft revolutionären Zeitalters" gehen. Reinhardt quält sich mit der Frage, was die Studie über einen Autor, der nur in mehrbändigen Ausgaben ohne Übersetzungen vorliegt, außer bei Spezialisten bewirken könne. Die Ergebnisse seiner Studie sind beachtlich.
Reinhardt identifiziert Guicciardini als ersten Historiker Europas, der - nach Überwindung der teleologischen Geschichtsauffassung - "die Omnipotenz und Totalität des Wandels und damit die absolute Offenheit der Geschichte entdeckt" und gedeutet hat. Damit verbunden sei die "Entdeckung des Widerspruchs" gewesen, vor allem die Einsicht, daß ein Tyrann wie Lorenzo mit einer bösen Herrschaft Gutes bewirken könne und Entsprechendes umgekehrt gelte. In Analysen des Ursachengeflechts für historisches Geschehen, vor allem für die Umbrüche der Florentiner Geschichte, sei Guicciardini auf die Psychologie der Macht gestoßen und zu der Erkenntnis gelangt, daß der Charakter der politischen Akteure die Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit der Geschichte bestimme. Die Perspektivität der Geschichte und ihre multiplen Wahrheiten habe der Florentiner erkannt.
Diese und andere Einsichten präsentiert Reinhardt in oft glänzenden Formulierungen, ebenso scharfsinnig wie metaphernreich. Doch fehlt ihm hier das rechte Maß. Sein Text ist fast im erhabenen Stil gehalten, der bisweilen ins Groteske umschlägt. So stehen gelungene Bilder neben amüsanten Fehlleistungen: "In ihren stärksten Verdichtungen sind die Ricordi Ideen-Miniaturen von geballter Sprengkraft." Über der Freude an Neologismen kann bei ihm jeglicher Aussagesinn verlorengehen. Manche Sätze verlangen dem Leser eine Kunst der Dechiffrierung ab.
Nach den Lehrbüchern der Rhetorik bezweckt der schwere Stil, den Adressaten zu erschüttern. In diesem Sinne war es Reinhardt daran gelegen, die Leser in seine Begeisterung für seinen Helden, den "nicht gelesenen Klassiker", einzubeziehen. Erkauft hat er das mit einer Distanzlosigkeit bis zur Urteilsschwäche. Reinhardt steht nicht an, Guicciardini die Entdeckung von "Ewigkeitswahrheiten" und die Erfindung von "Ewigkeitsfiguren" zu attestieren. Das Lieblingswort seiner Analysen ist das "Wesen" der Dinge, zu dem es mit dem Renaissanceschriftsteller vorzustoßen gelte: Dabei geht es um das Wesen der Macht und des Tyrannen, in äußerster Konsequenz um das "Wesen des Menschen" und "der Geschichte". Ohne die Frage der Tradition und Rezeption aufzuwerfen, hebt Reinhardt "Entdeckungen für immer" hervor: "Daß Europa sich bis heute über das Wesen der Macht und seiner Regierenden wenig Illusionen macht, ist nicht zuletzt eine Fernwirkung der von ihm (Guicciardini) begründeten Methode der Freilegung von Motiven."
Wer den historischen Wandel ernst nimmt, kann weder von unrevidierbaren Einsichten noch von Essenzen sprechen, die mit sich über alle Zeiten identisch bleiben. Reinhardt läßt die Ergebnisse seines Denkers als nicht zu übertreffenden Kulminations-, wenn nicht Schlußpunkt der historischen Methode erscheinen und verbindet diese These mit dem Vorwurf an seine "Zunftgenossen", daß "sich Guicciardinis Methodenrevolution sowie die dahinter stehende Haltung bis heute in der etablierten Geschichtswissenschaft nicht durchgesetzt haben".
Seiner Meinung nach hätten sich die Historiker, im Unterschied zu Guicciardini, nicht von der antiken Auffassung gelöst, daß die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens und durch die Wiederkehr des Immergleichen oder die Prognose des langsamen Aufstiegs gekennzeichnet sei. Er selbst glaubt, daß Geschichte als uneingeschränkte Hingabe an Quellen- und Faktenkritik zur größtmöglichen Erkenntnis des Geschehens, seiner Ursachen und Folgen führen könne und müsse. Darüber vergißt er, daß in den Wandel der Geschichte der Wandel von Anschauungen, Fragen und Begriffen, damit der Ergebnisse, einbezogen ist, so daß jede vermeintlich rekonstruierende Tätigkeit des Historikers tatsächlich Konstruktionen hervorbringt. Mit Guicciardini, der sich hier widersprüchlich verhält, bleibt Reinhardt insofern hinter der Theorie der modernen Geschichtswissenschaft zurück. In einer Notiz hat der Autor darüber meditiert, es sei vielleicht eine anthropologische Konstante, daß ein Ideologieverlust wie im Florenz des frühen sechzehnten Jahrhunderts für die historische Methode eine befreiende und entmutigende Auswirkung habe, indem sie den Sinn der Geschichte unklar werden lasse. Beiläufig hat er auf die Analogie von 1989 verwiesen. Damit hat er - wohl unbewußt - seinen zeitgeschichtlichen Standort umrissen und sein Interesse an einem pessimistischen Staats- und Geschichtsdenker begründet.
Man muß nicht an ein Endziel der Geschichte oder den Fortschritt zum Besseren glauben, um der Beschäftigung mit der Geschichte mehr Sinn zu geben als der richtigen Erkenntnis der sogenannten Tatsachen oder der Einsicht in den Charakter "des Menschen". Wer die Probleme seiner Zeit zum Ausgangspunkt des Geschichtsstudiums macht, kann, ohne leichtfertige Antworten oder Rezepte zu suchen, in der Auseinandersetzung mit dem historischen Stoff eine Lösungskompetenz auch für die eigene Zeit gewinnen, ohne daß die geschichtlichen und lebensweltlichen Probleme gleich oder identisch sein müßten.
MICHAEL BORGOLTE
Volker Reinhardt: "Francesco Guicciardini (1483-1540)". Die Entdeckung des Widerspruchs. Wallstein Verlag, Göttingen, Stämpfli Verlag, Bern 2004. 208 S., geb., 24,- [Euro].
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