Steuerverweigerung: Soll das Geschmeiß - von der alleinerziehenden Mutter bis zum Behinderten - doch lieber auf die Gnade der Reichen angewiesen sein und bei erwartbarer Ungnade, ganz nach Sarrazin, eben "woandershin gehen".
Ein gewissermaßen professioneller Beobachter der großen Entsolidarisierung ist seit Jahren Volker Braun, geschult noch am alten Brecht-Ensemble Helene Weigels und schon in der DDR mit deprimierenden Stücken auf literarische Schocktherapie setzend. Erst im vergangenen Jahr ist er mit dem "Schichtbuch des Flick von Lauchhammer", einem arbeitslosen Bergbauexperten aus der Lausitz, durch die Schächte und Stollen der Ein-Euro-Jobs gefolgt. "Flickwerk", im Umkreis dieses Schelmenromans entstanden, nimmt im Titel Bezug auf einen Ausspruch des Berliner Wirtschaftstheoretikers Michael Burda. Dieser hatte die Bemühungen des Bundesarbeitsministeriums um Erhöhung der Beschäftigungszahlen durch Lohnzuschüsse und gelockerten Kündigungsschutz "Flickwerk" genannt.
Braun möchte darin eine Zustandsbeschreibung "der ganzen bunten Gattung" erkennen. Das Modell gibt Sebastian Brants "Narrenschiff" ab, und Brauns Kontrafaktur der Gesellschaftssatire gelingt getreuer, als es ihr guttut: Denn so ganz anders als der Shakespearesche Narr ist derjenige Brants ein Muster an Verderbtheit, gottesfern, dumm und maßlos. Zwar hat Braun alle Schichten unserer Gesellschaft im Narrenverdacht, aber die Erwerbslosen-Meute bildet denn doch den Dreh- und Angelpunkt dieser über sechzig Kurztexte, die sich oftmals um Zeitungsmeldungen ranken.
So erinnern Brauns Glossen - abgesehen von dem barocken Schwulstton, den schlechten Kalauern (die Arbeitslosen sollten nach "Verdi"-Vorbild die Gewerkschaft "Wagner" gründen) und den lauen Pointen ("Die Gerechtigkeit ist die Pasta des Volkes") - an Kalendergeschichten, nur dass Herr Keuner sich dabei in die Albträume der zynischen Vernunft verirrt zu haben scheint. Gleich zu Beginn schon weigern sich die "Hoffnungslosen", kleine Lösungen anzuerkennen, weil sie nur allzu gern im Luxus darben. Würdelos versuchen sie daraufhin unablässig, Bestimmungen zu hintergehen, mehr aus dem Staat herauszupressen. Bedarfsgemeinschaften werden geleugnet, Nieren verkauft, ganze Eisenbahnstrecken entwendet, und das alles besten Gewissens: "Verurteilt, töricht zu sein und sich an den gedeckten Tisch zu setzen."
Ein vor der Ausweisung zitternder Ausländer (Braun sagt "Asylant") lügt sich um den Verstand: "Man hätte ihn selbst aus Münchhausen ausweisen müssen." Nichts scheint dem Autor so unsinnig wie ein übergebratenes Schlaraffenland. Sei einmal die Scham verloren, trete die Unverschämtheit auf den Plan: "Und warum nicht der Fernseher, warum nicht Ferien?", fragen die Vollfinanzierten auf dem Höhepunkt der Undankbarkeit. Welch eine Vermessenheit, als Arbeitsloser an Ferien zu denken!
Dass die lustigsten Akte der menschlichen Komödie in der Unterschicht spielen, ist womöglich einfach wahr. Doch in diesem Fall wird weniger gelacht als ausgelacht, hat sich ein Tonfall der Abschätzigkeit in die Narrenhistörchen gefressen, der das Buch schwer verdaulich macht. Eine Geldregeninstallation beispielsweise bringt den abrechnenden Erzähler auf folgende Idee: "So könnte man, um zum Brot die Spiele zu geben, die Stütze aus dem Sozialamt streuen und dem Pack auf die Sprünge helfen." Ironiesignale fehlen.
Nur einmal scheint da eine andere, revolutionäre Botschaft zu sein: Es müsse, so wird angedeutet, doch im Interesse der Abgewrackten selbst liegen, den in den Mund geflogenen Schweinebraten und das "Bier, in dem sie badeten", stolz auszukotzen: "Der Nischel hebt sich; und wer weiß, was wird" (Nischel ist der mitteldeutsche Ausdruck für "Kopf"). Misstrauisch macht bloß, dass die Idee mit dem Zorn wieder wie bei Sloterdijk, dem rhetorisch brillanten Philosophen des Ressentiments, abgeschrieben wirkt. Vielleicht ist Zorn überhaupt das neue Codewort für ein als pädagogische Maßnahme ausgegebenes Hungern: Wenn die Unnützen nur Ehre im Leib haben, werden sie gar nicht mehr essen wollen.
OLIVER JUNGEN
VolkerBraun: "Flickwerk". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 82 S., br., 16,80 [Euro].
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