Begriff der "suture", der "Vernähung" des Zuschauers in die filmische Handlung.
"Wie verhält sich der Film zum Körper des Zuschauers?" fragen sich die Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser und Malte Hagener. Anhand dieser Frage rollen sie die Filmtheorie neu auf und zeigen, wie sich die unterschiedlichsten Überlegungen zum Film in ein Verhältnis zum wahrnehmenden Körper setzen. Dabei greifen sie methodisch auf die Balance zwischen Theorie und Praxis zurück, wie sie in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Sergej Eisenstein, Siegfried Kracauer, André Bazin und Béla Balázs hergestellt wurde. Eisenstein ist vielleicht das beste Beispiel für einen spannenden Austausch und die Wechselwirkungen von Theorie und Praxis. Als Regisseur entwickelte er seine Montage-Theorie der Attraktionen, die er dann versuchte, in seinen Filmen umzusetzen. Eisenstein nahm an, dass bestimmte Reize (oder eben Attraktionen) auch bestimmte Reaktionen beim Zuschauer auslösen. Er wollte eine genau kalkulierbare Wirkung vorausberechnen, auf die der Körper reagieren sollte. Im Grunde stehen also seit der Geburtsstunde des Films dessen somatische Wirkungen im Mittelpunkt. Hagener und Elsaesser gehen in ihrer Filmtheorieeinführung einen ähnlichen Weg. Sie schälen die Theoriepositionen aus den Filmen selbst heraus, zeigen, wie sich in der Filmwissenschaft Theorie und Praxis bedingen. Das Nachdenken über die Wirkung der Filme schlägt sich nicht nur in wissenschaftlichen Abhandlungen nieder. Das Kino selbst zeigt eine sich beständig erneuernde Reflexion, nicht nur auf seine Inhalte, sondern vor allem auf die Umsetzung. In der Ausrichtung auf das Verhältnis von Körper und Film entfaltet dieser Einführungsband die Wechselwirkungen von Theorie und filmischer Praxis, zeigt wie sich aus der Keimzelle des Films neue Theorien entfalten, die dann wieder die konkrete Arbeit am Film stimulieren.
Um Filmtheorie konkret im Film abzulesen, muss man sich gar nicht mit anstrengenden Kunstfilmen auseinandersetzen. In den unterhaltsamen Filmgenres ist meist mehr Kinotheorie enthalten, als der Zuschauer glauben mag. Ein paar Beispiele: Ein Mann sitzt mit gebrochenem Bein unbeweglich in einem Sessel und schaut zum Zeitvertreib durch das Fenster seiner Wohnung. Wer würde hier nicht die Anfangssequenz von Alfred Hitchcocks "Das Fenster zum Hof" (1954) erkennen? James Stewart, in der Rolle des an den Rollstuhl gefesselten Fotografen L. B. Jefferies, wird zu einem Testfall der Filmtheorie.
Hitchcock inszeniert hier zwei grundlegende Eigenschaften des Kinos: sein Protagonist nimmt als Zuschauer einerseits eine scheinbar privilegierte Perspektive ein, die sich auf der anderen Seite aber auch durch eine Distanz zum Geschehen auszeichnet. Er spiegelt also die gesamte Kinosituation in der Blickanordnung von James Stewart, indem er ihn mit den gleichen Eigenschaften wie den Filmzuschauer ausstattet. "Das Fenster zum Hof" eröffnet so einen theoretischen Resonanzraum und thematisiert die in der Filmtheorie so wichtigen Metaphern der Rahmen und Fenster. Das Kino wird in frühen Ansätzen eines Rudolf Arnheim oder André Bazin als Fenster zur Welt oder auch als Rahmen begriffen. Das Fenster steht dabei für den Durchblick auf eine jenseits des Kinos existierende Realität. Im Rahmen wird die Welt neu erschaffen.
Komplizierter wird es mit dem Blick in den Spiegel. Wie Alice im Wunderland führt dieses Motiv das Kino in unbekannte psychologogische Sphären. Peter Lorre schneidet in Fritz Langs "M" vor dem Spiegel Grimassen und enthüllt die Psyche des Kindermörders. Als die berühmteste Szene dieser Art küren die Autoren Robert de Niros Auftritt in Martin Scorseses "Taxi Driver". "Are you talkin' to me?!" schleudert er sich selbst im Spiegel entgegen und erschafft damit den feindlichen Anderen. In der Persönlichkeitsstörung des Helden tun sich mit dieser Frage ganz neue Abgründe auf.
Das Spiegel-Paradigma spannt sich bis in neueste neurowissenschaftliche Forschungen aus. Große Erwartungen liegen auf den Spiegelneuronen, die Mitte der neunziger Jahre in den Gehirnen von Affen entdeckt wurden. Eine ganze Reihe von psychologischen Phänomenen, wie das menschliche Lernen durch Nachahmen und die Möglichkeit der Einfühlung in andere, würden besser erklärt werden können - falls die Forschung hält, was sie verspricht. Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die angesichts von Handlungen, die andere ausführen, aktiviert werden. Die Gehirnaktivität beim Beobachten der Bewegung eines anderen gleicht exakt der Gehirnaktivität beim selbständigen Ausführen einer Bewegung. So gesehen würde das Phänomen der Spiegelneuronen die Differenz von aktiv und passiv, von innen und außen, von Selbst und Anderem zusammenbrechen lassen. Ein Gesichtspunkt, unter dem auch Sehen und Tun zusammenfallen - gerade darin besteht das Faszinosum für die Filmtheorie. Die Autoren sehen in der psychologischen Revolution, die sich aus den Spiegelneuronen ableiten lässt, eine Chance für eine übergreifende Theorie vom Kino und der Filmerfahrung, die sich ganz neu mit den Motiven Spiegel und Gesicht auseinandersetzen kann. Es könnte sich sogar "die alte Frontstellung zwischen phänomenologisch realistischen Theorien auf der einen Seite und diskursiv-konstruktivistischen auf der anderen Seite" aufweichen.
Am greifbarsten wird all dies in den zurzeit so viel gesehenen "Gedankenspielfilmen", den "mind game movies". Im letzten Kapitel des Buches werden wir sehr plastisch darauf aufmerksam gemacht. Immer komplexere Erzählmuster von Episodenfilmen - Tom Tyckwers "Lola rennt" ist hier noch ein einfaches Beispiel - hebeln die zeitliche und örtliche Orientierung auf. Michael Haneke entzieht dem Zuschauer in "Caché" jeglichen Standpunkt und lässt ihn mit dem Gedankenexperiment allein. Die Autoren erkennen in der komplexen Erzählweise dieser Filme eine der möglichen Spielformen für unsere Gedanken. Für die Filmtheorie stellt sich also die cartesianische Frage nach der Trennung von Körper und Geist neu: "Ist der Film eine Sache des Geistes, entkörperlicht und abstrahiert, pure Sichtbarkeit, die keine Materie benötigt? Oder sind wir im Kino zuallererst Körperwesen, sind also Fühlen, Wahrnehmen und Denken Tätigkeiten, die ohne den Körper und sein Wissen gar nicht möglich wären?"
Das klassische Kino à la Hollywood stellte sich noch einen weitgehend körperlosen Zuschauer vor. Er wurde vor allem auf seinen visuellen Sinn - auf die Augen und den Blick - reduziert. Der Körper hielt jedoch schleichend Einzug ins Kino. Neue Tontechnologien sprachen das Ohr ganz anders an, ein Film wie "Apocalypse now" revolutionierte das Sound Design. Das Motiv der Haut ist nur ein Schlüssel zur haptischen Dimension eines Gänsehautnachfühlens. Die derzeit beobachtbare Rückkehr zur Theorie der Einfühlung und der Verkörperung beruht grundlegend auf dem Scharnier zwischen Zuschauer und Film. Es ist eine Theorie - so zeigen die Autoren eindrücklich -, die sich aus vielen Mosaiksteinen bisheriger Filmtheorie und Praxis zusammensetzt und dennoch ungeahnte Durchblicke eröffnet.
GESINE HINDEMITH
Thomas Elsaesser, Malte Hagener: "Filmtheorie zur Einführung". Junius Verlag, Hamburg 2008. 247 S., br., 14,90 [Euro].
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