ist. Nur Ersteres, die Langue als Form, betrachtete der "Cours" als Gegenstand linguistischer Analyse. Dabei war der Komparatist Saussure in Wahrheit ein profunder Kritiker des rein kognitivistischen Strukturalismus: Die Parole nämlich wirkt seiner Meinung nach auf das System zurück, weshalb soziohistorische, psychische und biologische Kommunikationsbedingungen in die Analyse einzubeziehen seien.
Erst in der jüngeren Vergangenheit beginnt sich allmählich die Auffassung durchzusetzen, dass Saussure die moderne Linguistik gerade in ihrer nicht- oder nachstrukturalistischen Verfasstheit umrissen habe. Diese Sicht auf den "authentischen Saussure", bestätigt vom Fund fragmentarischer Aufzeichnungen des Wissenschaftlers im Jahre 1996, wurde seit den siebziger Jahren ganz entscheidend vom Aachener Sprachwissenschaftler Ludwig Jäger vorangetrieben. Nun hat er seine zahlreichen Einsprüche gegen das überkommene Saussure-Bild zu einer instruktiven Monographie zusammengefügt. Er entwickelt dabei das Gedankengebäude des großen Sprachwissenschaftlers aus dessen Biographie heraus - und die eben ist filmreif.
Ferdinand de Saussure stammte aus einer bedeutenden Genfer Intellektuellenfamilie. Der hochbegabte Ferdinand litt vor allem unter den Erziehungsvorstellungen seines Vaters Henri, eines renommierten Insektenforschers, der den Sohn in die Naturwissenschaften zu drängen suchte. Groß war die Bestürzung bei Henri de Saussure, als Ferdinand an der Genfer Universität durch das Chemieexamen fiel. Zeitgleich aber hatte der Sohn sein Griechisch, Latein und Sanskrit verbessert und einen sprachwissenschaftlichen Artikel bei der Société linguistique in Paris eingereicht, die den Achtzehnjährigen sogleich als Mitglied aufnahm.
Der Paukenschlag erfolgte kurz darauf. Mit zwanzig Jahren veröffentlichte der seit zwei Jahren in Leipzig unter anderem Slawisch, Litauisch, Altpersisch und Keltisch studierende Saussure ein Buch, das die etablierte Disziplin in "Schockstarre" (Jäger) versetzte und den Verfasser über Nacht berühmt machte. Das "Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes" hat bis heute kaum etwas von seiner revolutionären Bedeutung als Ausgangspunkt der modernen Indogermanistik eingebüßt. Vor allem sieht Jäger darin das positivistische Wissenschaftsprogramm der Junggrammatiker um Karl Brugmann und Hermann Osthoff, denen man Saussure mitunter zurechnet, mit Nachdruck zurückgewiesen. Erstmals formulierte de Saussure hier die zentrale Einsicht, dass Laute nur in ihrer jeweiligen morphologischen Umgebung analysiert werden dürfen.
Ein kurzes Berliner Intermezzo im Wintersemester 1878/79 könnte ihn, so mutmaßt Jäger, mit der Vorlesung Carl Wernickes zur Gehirnanatomie und mit Heymann Steinthals Vorlesung zur Sprachphilosophie im Gefolge Wilhelm von Humboldts in Kontakt gebracht haben: Beides jedenfalls hat Spuren in Saussures Werk hinterlassen. Es folgte ein äußerst fruchtbares Jahrzehnt in Paris, wo aus dem behüteten Sohn ein gerühmter Hochschullehrer wurde, der Grundzüge einer neuen Sprachwissenschaft entwarf. Es ging darum, ein Modell der Sprache zu entwerfen, das kein Substrat der Sprache unterstellt. "Daten müssen, bevor sie beobachtbar sind, theoretisch konstituiert werden, allerdings auf einem Wege, der seinerseits der theoretischen Legitimation bedarf", fasst Jäger Saussures in vager Anlehnung an den hermeneutischen Zirkel entworfenes Programm zusammen.
Vermutlich war es der Druck der Familie, der im Jahre 1891 zu de Saussures Rückkehr nach Genf führte. Zwar heiratete er bald, aber an der Genfer Universität war er einsam und unglücklich. Er stufte nur wenige Studenten als "seriös" ein und hielt Vorlesungen vor ein oder zwei Zuhörern. Da war er Mitte dreißig - und am Ende seiner Karriere. Als Autor trat er in den nächsten zwanzig Jahren kaum noch hervor, dafür füllten sich seine Notiz- und Tagebücher mit weitreichenden Thesen zur Sprach- und Literaturtheorie, die Jäger detailliert diskutiert. Dabei zeigt sich in der Tat, dass de Saussures Sprachmodell, das mit Grenzfiguren und Annäherungen operiert, "in hohem Maße als geeignet erscheint, auch in den gegenwärtigen Theoriedebatten eine bedeutende Rolle zu spielen".
OLIVER JUNGEN
Ludwig Jäger: "Ferdinand de Saussure". Zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2010. 254 S., br., 14,90 [Euro].
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