strapazierten Begriff des "Kindeswohls". Nicht immer ist da, wo selbst höchste Gerichte vom Kindeswohl sprechen, tatsächlich dem Kindeswohl gedient: Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, daß nichtverheiratete Väter auch künftig nur mit Zustimmung der Mutter Sorge für ihr Kind tragen dürfen, geht letzten Endes zu Lasten des Kindes. So beklagen die Autoren, daß im Gerichtswesen die Verteilung des Risikos für das Kind häufig zu einseitig und in unvollständiger Würdigung der tatsächlichen psychologischen Situation geschieht.
Das gilt zumal für die Klärung des Verdachts auf Kindesmißbrauch. Erfolgt eine solche Klärung im Rahmen des Familienrechts, müßten nach Auffassung von Dettenborn und Walter analoge Ansprüche wie im Strafrecht gestellt werden: Nur wenn im Familienrecht ebenso streng wie im Strafrecht das Kriterium "Im Zweifel für den Angeklagten" gilt, können das Risiko von Falschbeschuldigungen klein gehalten und damit voreilige, das Kind schädigende Beschlüsse in Sachen Sorgerecht vermieden werden. Die Autoren wenden sich gegen eine verbreitete Auffassung, wonach diese strenge Prämisse des Strafrechts sich nicht mit der "Kindeswohlmaxime" vertrage. Eine solche Ansicht, so Dettenborn und Walter, gehe von der irrigen Voraussetzung aus, "nur Schutz vor sexuellem Mißbrauch könne kindeswohldienlich sein, nicht aber Schutz vor deplazierten Interventionen aufgrund von Falschbeschuldigungen".
Es läge im "Interesse der fachlichen Reputation", daß der Gerichtspsychologe als Sachverständiger zu erkennen gibt, wenn er an den Grenzen seiner fachlichen Erkenntnismöglichkeit angekommen ist, statt sich stereotyp auf den Satz zurückzuziehen: "Sexuelle Mißbrauchshandlungen können nicht ausgeschlossen werden". Andernfalls würden Bemühungen, ernsthaft die Gegenthese zu prüfen, unterminiert. Und nun braucht man nicht lange zu spekulieren: Sollte eine solche Tendenz künftig mit einer Anzeigepflicht von Leuten zusammentreffen, die bei dieser schwer identifizierbaren Materie meist doch nur "Zeugen vom Hörensagen" (Deutscher Richterbund) sind, dürfte dem Unwohl des Kindes definitiv mehr gedient sein als seinem Wohl.
CHRISTIAN GEYER
Harry Dettenborn, Eginhard Walter: "Familienrechtspsychologie". Ernst Reinhardt Verlag, München 2002. 352 S., br., 36,90 [Euro].
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