aggressive Neunjährige, die sich ständig mit Zap anlegt und Joseph mit Fragen belagert. Die amerikanische Autorin Alison McGhee hat eine Reihe von schrägen Typen um dieses Trio geschart. Und dann ist da noch die attraktive Mai, die ein Auge auf Joseph geworfen hat.
Alles scheint sich um Josephs Situation zu drehen und darum, warum er einige Monate zuvor nach Minneapolis kam und seine Mutter in Upstate New York zurückließ. Doch das eigentliche Mysterium - und das Herz der Geschichte - ist sein Schweigen. Schwerer als die körperliche Lähmung wiegt Josephs Hemmung zu erzählen. Es ist dieses Schweigen, das berührt. Vergangenes ragt in die erzählte Gegenwart und motiviert sie nicht nur, sondern determiniert und unterminiert sie. Hier koinzidieren Erinnerung und Gewalt. Die Gewalt, mit der Josephs Unfall verursacht wurde, ist kaum greifbar - eine Gewalt, die kein Motiv kennt. Schritt für Schritt rollt die Autorin das Tableau einer Tragödie auf, deren Konturen sie mit ausdrucksstarken Bildern und in verstörenden Erinnerungssequenzen brillant exponiert. Was zu Beginn einer Karte mit zahlreichen weißen Flecken gleicht, zeigt am Ende des Romans erschlossenes Terrain.
Joseph der Bienenhüter - ein wiederkehrendes Bild, in die Welt gesetzt von Zap, birgt ein wesentliches Geheimnis des Jungen. Die Bienen, die Joseph in der Bäckerei füttert, stehen auch für die Unruhe seiner Mitmenschen, für ihre Nervosität und Aggressivität. Er fühlt sich dafür verantwortlich, diese menschlichen Regungen zu entschärfen, die viel zu viel Raum einnehmen in seinem Leben. Wenn Zap und Enzo streiten, wenn die Neunjährige vor Wut und Trauer schier zu bersten scheint, fehlt ihm jede gesunde Distanz zu den vielen Verletzungen, die da zugefügt werden. Gegen die eigene Unruhe aber, die Panikgefühle, die ihn immer wieder einholen, richtet er am wenigsten aus.
Auch Enzos irritierendem Furor verleiht die 1960 geborene McGhee ein markantes Gesicht. Das Mädchen besteht darauf, "Mighty Thor" genannt zu werden, wie die 1962 geschaffene Figur des Comic-Autors Stan Lee aus dem Kosmos der "Marvel"-Helden. Feingefühl und Rücksichtnahme gehen ihr gänzlich ab. Doch der Stift, den sie bedrohlich klickend gegen jeden richtet, ist nur das jämmerliche Plagiat einer Waffe, wie sie die Comicgestalt Thor trägt - eines Hammers.
Die Autorin, die an der Metropolitan State University in Minnesota Kreatives Schreiben unterrichtet, verweigert vorerst auch für das nervöse Energiebündel Enzo eine Erklärung. Sie liefert ihr gesamtes Ensemble aus, das, von unterschiedlichen Versehrungen gezeichnet, gerade durch diese Bloßstellung, die kein Verrat ist, Verbindlichkeit gewinnt. Es ist die wohlausgelotete Komposition aus kompromissloser Annäherung an die psychischen Parameter und vorbehaltloser Achtung vor jeder einzelnen Figur, und sei sie noch so verquer, der man folgen muss. Und das nicht nur, um Josephs und Enzos Geheimnis zu erkunden.
"Die richtige Kombination von Wörtern würde zu unsichtbaren Seilen werden, an denen man Enzo aus dem Dschungel herausholen könnte" - ein poetisches Bild der Hoffnung. Und die richtige Kombination von Wörtern wird zu unsichtbaren Seilen, an denen Alison McGhee ihre Leser - verbindlich - aus dem Alltagsdschungel herausholt und sie an diese Superhelden-Geschichte fesselt. Dass sie dabei ganz ohne echte Superhelden auskommt, ist die glückliche Pointe dieses Romans.
SIMONE GIESEN
Alison McGhee: "Falling Boy". Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann. Carl Hanser Verlag, München 2009. 192 S., br., 14,90 [Euro]. Ab 12 J.
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