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Er vereint einflussreiche philosophische Beiträge, die im angelsächsischen Raum bereits seit den achtziger Jahren - und damit lange vor der deutschen ,Flüchtlingskrise' - publiziert wurden. Unter welchen Umständen kann es ethisch legitim oder sogar geboten sein, dass eine Gesellschaft ihre Grenzen schließt? Diese Frage bildet den gemeinsamen Ausgangspunkt der zehn Aufsätze, die nun (mit zwei Ausnahmen) erstmals auf Deutsch vorliegen.
Die Antworten könnten kaum unterschiedlicher ausfallen: Joseph H. Carens' Plädoyer für die Anerkennung eines Menschenrechts auf Freizügigkeit ("In vielerlei Hinsicht stellt die Staatsbürgerschaft in westlichen Demokratien das moderne Äquivalent feudaler Klassenprivilegien dar") steht neben Michael Walzers These, dass eine Staatsgemeinschaft einem Verein gleicht, der selbst über die Aufnahme neuer Mitglieder entscheiden kann ("Gemeinschaften müssen Grenzen haben; und wie immer sie diese Grenzen im Hinblick auf Territorium und Ressourcen definieren, in Bezug auf die Bevölkerung werden sie von einem Gefühl der Verwandtheit und Gegenseitigkeit bestimmt").
Dass Philosophen zu unterschiedlichen Positionen kommen, überrascht kaum. Interessant ist dagegen, wie verschieden ihre Begründungen für ein und denselben Standpunkt sein können. Das grundsätzliche Recht eines Staates, Menschen auszuschließen, wird so nicht nur mit der Assoziationsfreiheit seiner Bürger begründet, sondern auch mit ihren kollektiven Eigentumsrechten am Staatsgebiet (Hillel Steiner) und mit dem Verweis auf die Bedeutung des begrenzten Territorialstaats zur Durchsetzung politischer Entscheidungen und geltenden Rechts (David Miller).
In den Texten werden dabei zwei unterschiedliche Ansätze deutlich. Einige Denker gehen von abstrakten ethischen Prinzipien aus und wenden diese auf das Thema Migration an. Peter Singer etwa behauptet auf Grundlage seiner utilitaristischen Moralphilosophie, dass die Interessen von Einwanderern und Bürgern gleich gewichtet werden müssen, und folgert, dass Einwanderung nur dann beschränkt werden darf, wenn ihr Effekt insgesamt negativ ist. Andere Texte verorten das Thema Einwanderung stärker im politischen Kontext. David Miller zum Beispiel spricht den gegenwärtigen Staatsbürgern ein grundsätzliches Recht zu, über die künftige Gestalt ihrer Gemeinschaft zu bestimmen, und begründet das damit, dass Menschen ihr Recht auf Selbstbestimmung nur so dauerhaft ausüben können.
Der Sammelband wirft damit - ohne dies weiter zu reflektieren - die grundsätzliche Frage auf, wie Philosophen ethische Probleme verhandeln sollten, die politische Entscheidungen oder gar die Zusammensetzung einer politischen Gemeinschaft betreffen. Diese Frage ist auch deswegen von Bedeutung, weil die Perspektive offensichtlich die Haltung beeinflusst: Die Autoren, die Einwanderung vor allem als politisches Thema begreifen, sind zum Beispiel eher geneigt, Staaten die Hoheit über ihre Grenzen zuzusprechen. Zugleich differenzieren sie stärker zwischen den moralischen Ansprüchen verschiedener Einwanderungsgruppen, denn auch sie stellen in der Regel nicht in Frage, dass Menschen in akuter Not geholfen werden muss, selbst wenn das ihre (vorübergehende) Einreise in ein anderes Land erfordert.
Wer von diesem Buch eindeutige Antworten auf Fragen der Migrationspolitik erwartet, wird enttäuscht. Die geschickte Gegenüberstellung sich widersprechender Texte erzeugt vielmehr ein fruchtbares Spannungsfeld und zwingt den Leser dazu, eigene Annahmen ständig aufs Neue in Frage zu stellen. Das ist erfreulich, denn an markigen Standpunkten mangelt es in der öffentlichen Debatte zur Einwanderung kaum - an durchdachten Begründungen zuweilen schon.
FRIEDEMANN BIEBER
Frank Dietrich (Hrsg.): "Ethik der Migration". Philosophische Schlüsseltexte.
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2017. 262 S., br., 18,- [Euro].
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