Aussicht auf Solidaritäts- und Extremerfahrungen, die ihn aus der "Leitplankenkultur" heraustragen. Der brave Herdentrott ist seine Gangart jedenfalls nicht, den Sitzriesen und Sesselfurzern zieht er jederzeit die Gesellschaft obdachloser Herumstreuner vor. Aus historischen wie persönlichen Gründen kann er sich nie zur Ruhe setzen: Seine internationalen Gewaltmärsche sind Protestmärsche gegen das Hopphopphopp der Konzentrationslager. "Deutsche können nur in der Fremde glücklich werden, ständig auf der Flucht vor ihrer Geschichte."
So nennt und schreibt Herburger wie ein Hamster im Laufrad, der sich seiner schriftstellerischen und politischen Identität nur in dauernder Bewegung versichern kann. "Nur wenn ich fortwährend alles unter gewissenhafter Beobachtung halte", heißt es in "Elsa", "nimmt die Gewissheit zu, dass die Welt nicht zerspringt." Am Wegrand liest der rasende Pegasus wahllos kulturhistorische Fundstücke, Alltagsdinge, autobiografische Partikel und Reflexionen auf. Aber weil er so hurtig und angespannt zu Fuß ist, immer auf der Hut vor schnappenden Kötern, verständnislosen Zaungästen, physischen und psychischen Zusammenbrüchen, wirken die Bücher des einsamen Langstreckenspezialisten oft merkwürdig zerfahren und atemlos. Seit bald vierzig Jahren hetzt Herburger so hinter dem Ideal einer gerechten Gesellschaft her, in der Raum für das Wissen und die Erfahrungen der Unterprivilegierten wäre; aber die Zeitläufe sind dem utopischen Dauerläufer nicht günstig gesinnt. Auf dem langen Marsch in eine bessere Zukunft verschrieb er sich mal der DKP, mal der kindlichen Empfindung, aber immer einer assoziativen Privatmythologie. Das hat ihn nicht nur aus der Welt bürgerlicher Sekurität und Sesshaftigkeit, sondern auch aus den geregelten Bahnen des Literaturbetriebs herausgetrieben, auch wenn er kürzlich erst den Literaturpreis der Stadt München erhielt.
In Herburgers jüngstem Roman traktiert Loth, ein beruflich gescheiterter und nervlich zerrütteter Getreidehändler, eine ferne Geliebte mit epischen Briefen. Gewärmt von seiner roten Conti-Bettflasche, schreibt er für Elsa Swammerdam auf der Unterlage seines englischen Tabletts auf, was ihm laufend durch den Kopf geht: die erstaunlichen Kraftleistungen des Nashornkäfers und andere Betrachtungen über Flora und Fauna, mathematische und etymologische Probleme, Anekdoten und vermischte Meldungen, Nietzsche und C. G. Jung, die Chemie der Psychopharmaka und die Vorzüge des "deutschen Hochleistungsschäfers mit Lukleinsohlen". Vergessen wir die Gattungsbezeichnung: Der Briefroman ist nur ein Vorwand, um enzyklopädischen Wissensballast abzuwerfen. Gut möglich, dass die Adressatin, die holländische "Tollundfrau", Zahnärztin und Hürdenläuferin Elsa, nur die Halluzination eines delirierenden Läufers ist; oder dass sein Nebenbuhler Hektor, ein schrecklich normaler Tierarzt und Bodybuilder, die Episteln abfängt. Jeder Leser hat Mühe, mit der galoppierenden Gedankenflucht Schritt zu halten.
Loth erhöht laufend Erzähltempo und Aktionsradius. Anfangs befindet er sich, ans Bett fixiert und medikamentös sediert, in einem Fünfbettzimmer der Psychiatrie. Er weiß seine Unfreiheit durchaus zu schätzen: Draußen lauern bloß Gefahren, in seinem Kopf eine "agierende Psychose", Ängste und "Klaustrodepressionen". Aber ein Stadtindianer kennt weder Schmerz noch Verschnaufpause: Nachdem erste Joggingausflüge in München ermutigend verlaufen sind, nimmt er dankbar das Angebot von Doktor Carola Binswanger an, sie im Zuge einer nachsorgenden "Prokrustes"-Bewegungstherapie zum Heilwandern in die Alpen zu begleiten. Während der Patient sich noch mit energischen Bergführern und Klettermaxen aus dem Flachland herumschlägt, kommt die mütterliche Psychiaterin im Gletschereis des Piz Palü abhanden - ein Vorfall, der sich beim marokkanischen Bergmarathon mit Doktor Freja Sotomajor wiederholt: Loth hält sich trotz Atemnot, Steine werfenden Berbern und französischen Mitläufern wacker, seine Begleiterin geht in der Wüste verschollen. Unbeeindruckt von allen Verlusten, streift Loth mit Rucksack, Blockflöte und Skiern durch die winterkalte Bronx, ein Wilder in der Metropole der multikulturellen "Waren-Welt-Vereinigung".
Er findet bei bügelnden Pfarrern und Pennern, bei dem Schriftsteller E. L. Doctorow und gelegentlich auch in Heizungskellern Unterschlupf, lebt aus Mülleimern und verliert doch nie seine "frohe Dackelhaftigkeit" und "wohltuende Lalligkeit". Im Gegenteil. Staunend und befriedigt, beobachtet der Pikaro im Großstadtdschungel, wie die Natur in Gestalt von Wölfen, Gürteltieren, Eskimos und Indianern verlorenes Terrain zurückerobert: "Es ist ermutigend, dass auf einem Hektar Stadt, was Darwin noch nicht wissen konnte, wesentlich mehr Arten als auf einem Hektar Ackerland zu entdecken sind." Am Ende finden wir ihn auf dem Dachstuhl des Ulmer Münsters wieder, wo er unter der Obhut einer barmherzigen Mesnerin Kürzel auf seine Handrücken bis zum Ellenbogen hinaufkritzelt.
Der Abenteurer aus "Ereignisgier und Überlebenswillen" ist ein Grenzgänger jedweder Borderline: Hart am Rande von Schreibzwang und schizophrenem Wahn, macht er von seinen "erworbenen Kulturtechniken" nur sparsamen Gebrauch; um so aufmerksamer beobachtet er aus der Distanz des fremden Außenseiters die Riten der Eingeborenen und Touristen in Berghütten und Kellern. Dass insgesamt drei Frauen tot auf der Strecke bleiben, irritiert ihn nicht weiter: "Das widersinnige, völlig falsch Grundlose ist genial." In einem Interview erzählte Herburger einmal, er habe schon als Kind beim Fußballspielen in Hexametern gesprochen: Hier spricht er in allen poetischen Figuren (einschließlich Palindromen) und in allen Fremdsprachen (außer Bayrisch). Sein Loth übersetzt zum Zeitvertreib das Nibelungenlied und zitiert Koran-Suren wie Karl May. Seine Neugier und lexikalische Gelehrsamkeit machen vor nichts Halt, auch wenn die heterogenen Materialien nur durch ein eher dünnes Band zusammengehalten werden: Tempotaschentücher, Tesafilm, Schweizer Offiziersmesser, Leitz-Ordner und andere Alltagsgegenstände, die er mit längeren Fußnoten bedenkt, sind ja nur insofern miteinander verwandt, als sie just zur Zeit der Niederschrift von "Elsa" ihr hundertjähriges Jubiläum feierten.
Das Inkommensurable zusammenzuzwingen, Wichtiges und Unwichtiges, Kleines und Großes nebeneinander zu stellen, gehörte schon immer zur Poetik Herburgers. Seine Gedichte verglich er einst mit "voll gestopften Schubladen", die klemmen müssen. Voll gestopft ist "Elsa" in der Tat, und manchmal klemmt der Roman auch. So gern man den kauzigen Beobachter und Wortmetz Loth auf seinen Berg-und-Tal-Läufen begleitet, so klaglos man ihm in die unzugänglichsten Schluchten von Atlas, Duden und Syntax folgt: Irgendwann wird der Weg durch "die eiweiche Celanhaftigkeit kariöser Verhältnisse" zu steil und zu lang, die Sprunghaftigkeit des asozialen Vagabunden gar zu anstrengend: Die Anhäufung von nutzlosem Wissen verläuft sich im Unverbindlichen, und die Reiseimpressionen aus dem Land von Lauf und Wahn verwackeln mehr und mehr zu Bildern aus dem Album eines Alternativtouristen, der auf der Suche nach dem Glück keinerlei Disziplinierung seiner ab- und ausschweifenden Fantasie duldet.
MARTIN HALTER.
Günter Herburger: "Elsa". Roman. Luchterhand Verlag, München 1999. 342 S., geb., 42,- DM. DM.
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