Gerkens, die in ihrer gerade als Buch erschienenen Doktorarbeit ein überraschendes Feld betreten hat: die Elfenbilder der englischen Malerei im neunzehnten Jahrhundert. Das Genre bildet einen Sonderfall der Kunstgeschichte. Während im kontinentalen Europa, allen voran Frankreich, die Avantgarden ihren Siegeszug feierten, städtische Szenen, flirrende Landschaften, Bars, Frauenakte und Bahnhöfe die malerischen Bildwelten dominierten, stieg in England, im Herzen der Industrialisierung, die Darstellung von zartgliedrigen Wesen mit Insektenflügelchen zu einem der beliebtesten Genres auf. Warum, fragt Gerkens und gibt eine überraschenden Antwort.
Um zu verstehen, welcher Stein hier ins Rollen gerät, sollte man sich vorab ansehen, wie üblicherweise Elfenbilder kunsthistorisch eingeordnet werden: Gerkens führt den Aufsatz von Jeremy Maas von 1969 an, dem auf der einen Seite das Verdienst zukommt, die Elfenbilder zuerst als eigenständiges Genre benannt zu haben. Auf der anderen Seite war Maas schnell mit der Erklärung bei der Hand, dass sich in ihm eben die Angst vor der Moderne ausdrücke, das Unbehagen angesichts der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, vor denen man sich in eine heile Märchenwelt geflüchtet habe.
Wahrscheinlich gibt es kaum einen weniger plattgetrampelten Pfad durch den kunsthistorischen Wald als diesen Eskapismusvorwurf: die Vorstellung also, dass, wer impressionistische Straßenszenen gemalt hat, der Gegenwart und ihren Herausforderungen mutig entgegenblickte und dass umgekehrt, wer in naturalistischer Manier Fantastisches auf die Leinwand brachte, eine Art konservativer, weltfremder Drückeberger gewesen sein muss. Noch dazu greifen solche allgemein gehaltenen psychologischen Muster zu kurz. Denn warum sollten ausgerechnet die englischen Künstler schlechter mit der Moderne zurechtgekommen sein als die französischen?
Auf der Suche nach einer besseren Antwort gliedert Gerkens ihre Analyse in zwei Teile. Sie geht erstens der Entstehungsgeschichte der Elfennmalerei nach, die bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreicht, auch wenn die Elfen über lange Zeit nur sehr vereinzelt in Bildern auftauchen. Zweitens untersucht sie den Boom, der zwischen 1840 und 1860 liegt, als die geflügelten Märchengestalten zum populären Sujet aufstiegen, das regelmäßig bis zum Ersten Weltkrieg in der Royal Academy zu sehen war.
Der Grund dafür, dass England zur Elfenhochburg aufsteigen konnte, liegt in der Literaturgeschichte. Es war Shakespeare, der in seinen Dramen "Sommernachtstraum" oder "Der Sturm" mit den winzigen, schelmischen, aber im Allgemeinen gutwilligen Elfen einen neuen Typus schuf. Entliehen hatte der Dichter sie dem Volksaberglauben, in dem die fantastischen, mit Magie begabten Wesen allerdings dämonischer ausgemalt worden waren. Der Kobold Puck galt beispielsweise als eine recht unheimliche Gestalt, der nun aber als Streiche ausheckender, übermütiger Geselle auf die Bühne trat.
Shakespeare schwieg weitestgehend über das Aussehen der Elfen, von Insektenflügeln war erstmals 1714 bei Alexander Pope die Rede. Als Shakespeare schließlich zum Nationaldichter aufstieg und die ersten illustrierten Ausgaben seiner Werke erschienen, begaben sich die Zeichner auf die Suche nach einer Ikonographie, die im achtzehnten Jahrhundert wechselnde Gestalten durchlief. Die kleinen Geister wurden gleich Putti auf Wolken gesetzt, mit Engelsschwingen oder Schmetterlingsflügeln bestückt. Noch war sich die Literaturkritik uneins, wie der Eingang des Fantastischen in die Kunst zu bewerten sei: Die einen rügten die Abkehr von Wahrhaftig- und Natürlichkeit, die anderen lobten die dichterische Erfindungsgabe, das Genie, sich neue Welten zu schaffen.
Die entscheidende Wende kam mit dem 1741 in der Schweiz geborenen und in London lebenden Maler Johann Heinrich Füssli. Für die sogenannte Boydell Shakespeare Gallery, ein Projekt, das auf eine möglichst vollständige malerische Umsetzung des shakespearschen Werks abzielte, schuf Füssli 1789 und 1791 die ersten Gemälde in der Kunstgeschichte, in denen Elfen nicht nur als Personal unter anderem auftauchen, sondern als vollständig bildwürdig erachtet werden. Ein eigenständiges Sujet war geschaffen worden. Und Füssli breitete auch wortreich aus, wie diese Figuren zu verstehen seien: Im Aberglauben wären sie einst Sinnbilder für unsichtbare Naturkräfte gewesen, bevor diese durch die Wissenschaft erklärt wurden. Als Allegorien sah Füssli die Elfen auch; nur verkörperten sie nicht mehr unsichtbare Naturkräfte, sondern das ebenso unsichtbare Innenleben des Menschen, den Rausch, den Traum und das Unbewusste. Es sind zugleich Geisteszustände des Menschen, die in der Aufklärung nur als Gegensatz zu Verstand und Ratio begriffen wurden, im neunzehnten Jahrhundert aber zum wissenschaftlichen Forschungsgegenstand aufstiegen.
Von hier aus fächert Gerkens in ihrer souverän erzählten Studie eine reiche Elfentaxonomie auf: die durchscheinenden Wesen entsteigen der Modedroge Opium, den mesmeristischen Experimenten, der Traumforschung und der beginnenden Suche nach einem Unterbewussten. Maler wie Richard Dadd oder John Anster Fitzgerald schufen also keine Feenwelten, weil sie aus einer verwissenschaftlichten Welt fliehen wollten. Sie gaben mit bildnerischen Mitteln dem Gestalt, was in den Laboren der Psychologen und Physiologen im neunzehnten Jahrhundert erforscht wurde. Von der Moderne müssen wir uns demnach wortwörtlich ein anderes Bild machen.
JULIA VOSS
Dorothee Gerkens: "Elfenbilder - Traum, Rausch und das Unbewusste". Die Erkundung des menschlichen Geistes in der Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2009. 320 S., zahlreiche Abb., geb., 39,- [Euro].
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