sich als Schriftsteller tatsächlich zu etablieren, muss die Hürde des zweiten Buchs gemeistert werden, man muss nachlegen, und diesmal, ohne die Leser drei Jahrzehnte hinzuhalten. Dieses Jahr ist nun Chadwicks zweites Buch erschienen, ein ungleich schmaleres Bändchen, das um einiges routinierter als sein Vorgänger daherkommt. Es erinnert an eine Anleitung zum literarischen Schreiben mit praktischen Übungen, die Chadwick allerdings recht gut gelungen ist, denn bei aller Versiertheit eröffnet er auch hier überraschende Perspektiven auf das Alltägliche.
Ein gängiger Trick beim Creative Writing ermutigt den literarischen Aspiranten, er möge ihm unbekannte Leute beobachten und sich Geschichten über sie ausdenken, und so ähnlich mag Chadwicks neuester Roman tatsächlich entstanden sein. Die Protagonistin Elsie ist abgrundtief hässlich: "die dicht beieinanderstehenden, tief in den Höhlen liegenden und leicht schielenden Augen, die kaum vorhandenen Lippen, diese großen, vorstehenden Zähne, das große Kinn mit den zwei haarigen Warzen und die krausen, hellbraunen Haare". Gerade weil sie dermaßen unansehnlich ist, sind ihr Schönheit und Sauberkeit besonders wichtig: Ihre Freizeit verbringt Elsie am liebsten in blühenden Parks und Gartenanlagen, und von Beruf ist sie Putzfrau. Aus der fahlen Haut der männlichen Hauptfigur Stan wiederum lässt sich schließen, dass er in letzter Zeit nur wenig frische Luft und Sonne abbekommen haben kann. Und tatsächlich saß er noch bis vor kurzem wegen Mordes für fünfzehn Jahre im Knast.
Dann der Zufall: Er ist der große Freund des Schriftstellers, also sollte er in jedem literarischen Neuprojekt eine gewisse Rolle spielen. Bei Elsies und Stans Zusammentreffen handelt es sich, wie schon der Titel besagt, um "Eine zufällige Begegnung". Wo heutzutage in Online-Foren nichts dem Zufall überlassen wird und die gegenseitigen charakterlichen und optischen Übereinstimmungen sekundenschnell berechnet werden, lernt Elsie Stan im Bus kennen. Genervt von ihren neugierigen (und hässlichen) Blicken, hofft er sie abzuwimmeln, indem er ihr eröffnet, er habe "einen Kerl umgebracht". Elsie, stets um höfliches Einvernehmen bemüht, erkundigt sich interessiert nach den Gründen für seine Tat. Nicht wenig verdattert von der Reaktion der "blöden, hässlichen Kuh" neben ihm geht Elsie Stan nicht mehr aus dem Kopf, und als er untertauchen muss, bittet er ausgerechnet sie um Hilfe. Für einige Monate entwickelt sich eine außergewöhnliche Freundschaft zwischen dem ungleichen Paar.
Ganz allgemein empfiehlt es sich für jeden Romanschreiber, von dem zu erzählen, was er kennt, denn nur so erzielt man beim Publikum die gewünschten Wiedererkennungseffekte. Durch seine jahrelangen Dienste für den British Council ist Chadwick viel herumgekommen, aber auch für sein zweites Buch bleibt er in England. Vielleicht muss man so weit wie er gereist sein, um die eigene Mentalität in ihrer ganzen Verschrobenheit aus angemessen ironischer Distanz betrachten zu können. In Chadwicks neuester Veröffentlichung jedenfalls wimmelt es von Cottages und Bridgeclub-Treffen, von den Gärten des National Trust und cups of tea, von wohltätigen Sammlungen vor dem Supermarkt Tesco und Nachmittagen im Oxfam-Shop. Ganz wichtig auch die eigene Wohnung: My home is my castle, das gilt nicht nur für Elsie und ihre blitzblanke Puppenstubenwohnung, sondern auch für Stan. Man kann sich sein Entsetzen vorstellen, als er sein kleines, ordentlich hergerichtetes Zimmer von seinen Verfolgern verwüstet findet.
Um als Autor allerdings wirklich erfolgreich zu sein, bedarf es der berühmten eigenen Note, und daran scheitern die meisten eifrigen Schreibeleven. Nicht Charles Chadwick: So souverän er auf der Klaviatur des Creative Writing auch herumklimpert, er bleibt auf charakteristische und charmante Weise altmodisch und innovativ zugleich. Zum Beispiel Elsies optische Erscheinung: Mit ein bisschen plastischer Chirurgie, Make-up und Fitnessstudio müsste da doch etwas zu machen gewesen sein. Stans Versuch, eine neue Identität zu erlangen, indem er sich einen Bart wachsen lässt und als angeblicher Ex-Kapitän fleißig Seemannsgarn spinnt, ist ebenfalls eher traditionell. Dann ist da noch Chadwicks eigenwilliger Schreibstil, der dem Leser einiges an Aufmerksamkeit abverlangt. Aber wenn man sich in die verqueren Gehirnwindungen seiner Figuren hineinversetzt, die sich teils recht wirre Gedanken über ihre Mitmenschen machen, ist es nur plausibel, dass das eine oder andere Personalpronomen nicht sofort richtig zugeordnet werden kann.
Das alles ist ein bisschen konservativ - doch dem steht entgegen, dass Chadwick eine grundhässliche und damit zugleich unvergessliche weibliche Protagonistin geschaffen hat. Wann immer Elsie freundlich aussehen möchte, verzieht sich ihr Gesicht zu einer hässlichen Fratze, und wenn sie zu lachen versucht, erinnert es an das Kläffen eines heiseren Hundes. Also hat sie es irgendwann seinlassen mit der Mimik und dem Ausdruck von Emotionen. Egal, was man zu ihr sagt, aus ihrem Gesicht ist nichts zu lesen, sie kommuniziert keinerlei Reaktionen oder Wertungen, und das macht sie vertrauenerweckend.
Hässlich, wie sie ist, so denken sich ihre Mitmenschen, kann sie ja selbst nicht allzu viel Interessantes erlebt oder zu erzählen haben. Charles Chadwicks neuestem Roman verdankt man die Erkenntnis, dass nicht nur die schöne, sondern auch die hässliche Frau als perfekte Projektionsfläche dienen kann. Nach dem "unauffälligen Mann" seines ersten Buchs hat er nun einer hässlichen Frau und ihrer "zufälligen Begegnung" zu literarischer Präsenz verholfen. Man erfährt viel über das schriftstellerische Handwerk - den letzten Kniff allerdings, die Fähigkeit, im Hässlichen und Zufälligen das Besondere zu entdecken, den kann man nicht erlernen. Aber hier immerhin erlesen.
MARGRET FETZER
Charles Chadwick: "Eine zufällige Begegnung". Roman. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 207 S., geb., 17,95 [Euro].
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