mit jener anderen, großen, die seit zweihundert Jahren ihre moralische Hand über den Fortschritt hält? Oder floriert seine schöne Zuversicht nur deshalb, weil die Verhältnisse in Wirklichkeit gerade so nicht sind?
Diesen illusionären Tauschhandel, sonst eigentlich nicht der Rede wert, will Pennacchi aufdecken. Dadurch kommt heraus, was die Aufklärer des Kriminellen wirklich bewegt: Mit Scharfsinn und Methode spüren sie hinter der Untat eine Logik auf, die zum Täter führt. Sie wenden den klaren Verstand an, wo die Tat doch trüben oder blinden Leidenschaften folgt. Die 184 Messerstiche in den Opfern zeigen, daß das Verbrechen gerade seine eigenen, bestialischen Gründe hat. Wollte man diese Geschichte begrifflich etwas härter anfassen, so könnte man ihr zugute halten, daß sie dem Kampf nachgeht, den die Evidenz gegen die Hydra der Kontingenz führt.
Pennacchi tut ein übriges und läßt die Liebhaber von Kriminalromanen ins Leere laufen. Nichts ist am Ende gewiß, nicht einmal der Erzähler selbst. Hat er aus den "90 Prozent ungesühnter Delikte" gar den logischen Schluß gezogen, seinen Psychoanalytiker ungestraft überfahren zu können? Der (fingierte) Verleger dementiert hastig; das ganze Werk stimme nicht. Wirklich wahr ist nur der Zweifel an der Wahrheit, und so flimmert der Roman wie die Luft über den Pontinischen Sümpfen bei Rom, wo der Erzähler herkommt.
Für Problemvorrat wäre also gesorgt. Eine andere Frage ist allerdings, wie man's seinem Leser sagt. Pennacchi mutet ihm eine doppelte Askese zu. Loredana und Emmanuel, die Opfer, werden gefunden; die Nachforschungen richten sich nach allen Seiten. Je länger sie dauern, desto weitere Kreise zieht der Fall; die Verdächtigen mehren sich. Mit dem Widerstand des Verbrechens wachsen die Anstrengungen der Aufklärer. Nach den Carabinieri schalten sich die staatliche Polizei ein, die regionale Mordkommission und der Erzähler. Er wird - man weiß nicht, warum und von wem - seinerseits mit der Verfolgung der Wahrheit beauftragt. Er wiederum zieht einen Staatsanwalt a. D. zu Rate, seinen Psychiater, Zeugen, Protokolle, Bewohner - mit dem Ergebnis, daß das Faktum des Mordes in so vielen Widersprüchen aufgeht, daß es ihn eigentlich nicht gegeben haben kann. Die Versuche, den Fall zu lösen, lösen ihn auf.
Dahin wollte Pennacchi den Leser bringen. Aber muß er uns deswegen in ein "Seminar über die Mythologie der historischen Rekonstruktion" schicken? Gut, wir verstehen, daß Wahrheit, wo Menschen im Spiel sind, Fiktion bleibt. Aber das hatte schon Calvino durchgenommen. Immerhin: Pennacchi bleibt dabei nicht stehen. Sind wir, so fragt er, potentiell nicht alle Täter? "Erstaunlich ist nicht, daß hin und wieder jemand mordet, sondern daß die übergroße Mehrheit niemals mordet." Jeder (literarisch) aufgeklärte Mord müßte einen neuen provozieren, weil es ein großes Bedürfnis gibt, über Unerklärliches zu reden (und zu lesen). Das wäre insgeheim ein schönes Plädoyer für die Unwahrheit von Literatur.
Andererseits scheint dies ihn gerade zu einer raunenden Vertiefung des Falles verführt zu haben. Wenn der Mensch ein Tier ist, steht ihm auch eine solide mythische Abstammung zu. In dieser Absicht läßt der Autor im Hintergrund Saturn und Fortuna, Werwölfe, Nero und die ganzen Archetypen des kollektiven Unbewußten paradieren. Die einfache Wahrheit ist nicht zu haben. Hier wird zwar nicht philosophiert, aber auch nicht fabuliert. Der Fall dreht sich um seinen Text; die Unterschiede verschwimmen; die Übersicht schwindet. Auch wenn damit die falsche Selbstgewißheit eines literarischen Mordes abgetötet werden soll - es setzt dem Leser viel trockenes Textbrot vor. Wie gesagt: Pennacchi hatte eine gute Idee.
WINFRIED WEHLE
Antonio Pennacchi: "Eine rote Wolke". Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Luchterhand Literaturverlag, München 2001. 283 S., geb., 39,90 DM.
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