berühmten Schriftsteller Julius Klinger auf der Flucht vor den Nazis nach Amerika gefolgt. Zwischen den beiden Daten liegen dreißig Jahre Ereignislosigkeit: Sie machen die Romanhandlung aus.
Von dem homosexuellen Liebesroman des zwischen Basel und dem Elsaß lebenden Alain Claude Sulzer geht eine Wirkung aus, der man sich schon nach den ersten Zeilen schwer entziehen kann. Große Gefühle, Verrat und zeitloses Warten auf das unwahrscheinliche Wiedersehen sind in der Literatur schon reichlich beschrieben worden, aus männlicher wie aus weiblicher Perspektive. Bei Sulzer geht die Faszination weniger vom Thema aus als von den subtilen Grautönen der Schilderung: dreißig Jahre wunschlos unglückliche Gleichförmigkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart, hinter denen die gelbstichig-verblichenen Farben eines längst gewesenen Glücks aufscheinen.
Erneste war 1936 Kellner im Parkhotel bei den Gießbachfällen über dem Brienzersee; 1966 ist er es immer noch. Mit sechzehn war er von zu Hause weggegangen, kam dann über Straßburg ins Berner Oberland und lebte dort in der Geborgenheit einer frei gewählten Routine aus geregeltem Saaldienst, Diskretion, Musikhören am Rundfunk, sofortigem Einschlafen abends und bescheidenem, aber sicherem Auskommen - bis zu jenem Maisonntag 1935 bei der Schifflände am See, wo er, wie schon oft, einen neuen Saisonangestellten abholen sollte. Der neunzehnjährige Jakob Meier aus Köln, der sich da über den Landesteg näherte, ließ die solide eingerichtete Welt Ernestes augenblicklich untergehen. Vom bedrohlich aufregenden Gefühl beim ersten Blickkontakt über den Schauer der ersten flüchtigen Berührung und die ungewohnte gegenseitige Körpererkundung in der Nähstube der Uniformschneiderin bis hin zu den gemeinsamen Sommernächten im Mansardenzimmer des Grandhotels entstand da eine Geschichte, die offenbar nicht für Dauerhaftigkeit gemacht war.
Sie dauerte eine Saison lang. Eine Saison später war sie bereits von Jakobs Doppelspiel mit dem prominenten - in manchem offenbar Thomas Mann nachempfundenen - deutschen Schriftsteller Klinger überschattet und mündete in den Fixpunkt einer stehenden Erinnerung über dreißig Jahre hin, mit der Erneste in die Geborgenheit seines gleichförmigen Lebens zurücksinkt. Um diesen Fixpunkt zieht der Roman narrativ seine Kreise. Allerdings hat vom rückschauenden Gegenuhrzeigersinn an jenem Septembermorgen 1966 die Kreisbewegung des Erinnerns ihre Sinnrichtung jäh gewechselt, denn der schon nicht mehr erwartete Brief Jakobs aus New York enthält eine unverschämte Bitte an den früheren Freund.
Mag Erneste auch tagelang in erwartungsvoller Bange sich ums Öffnen dieses Briefs herumdrücken, so ist der Moment der Wahrheit doch unabwendbar - und plötzlich erhält sein Leben wieder eine Zeitrichtung. Erneste muß reagieren, auf die Bitte eingehen oder sie ignorieren. Die historisch bewegte Zeit, die - zunächst als fernes Kriegsrasseln in Deutschland, dann als die bevorstehenden Olympischen Spiele in Berlin, Julius Klingers offener Brief an Goebbels über das "anständige Deutschland", schließlich als Kriegsausbruch und Nachkriegszeit - immer nur von weit her in die glücklos glückliche Abgeschiedenheit des Hotelkellners hineingewirkt hatte, zeigt nun plötzlich das Muster auch privater Erlebniszeit. Monsieur Erneste, der seit dreißig Jahren nur hin und wieder lautlos im Kino geweint hatte, und auch das schon lange nicht mehr, und der selbst die Fußtritte der nachts vor der Parktoilette ihn verprügelnden Halbstarken seltsam abwesend "wie in einem Zustand trunkener Auflösung" wahrnimmt, muß den gealterten, aus dem amerikanischen Kriegsexil längst ins Altersexil am Schweizer See zurückgekehrten Klinger aufsuchen.
Was Erneste dort über seinen Freund Jakob erfährt, macht dessen jugendlich strahlende Lichtfigur jenseits von Gut und Böse mit einem Schlag trübe. Auf Ernestes eigenes Leben fällt plötzlich "ein glanzloses Licht, das alle Dinge ihrer Farben beraubte und die Sehnsucht nach Jakob in das unwürdige Winseln eines Hundes verwandelte, der sich vor den Schlägen seines Herrn ebenso fürchtete, wie er sie herbeisehnte".
Nicht die Ereignisdramatik dieser Enthüllung aber und überhaupt keine äußeren Turbulenzen sind das Entscheidende an diesem Buch. Sein Stoff liegt vielmehr im reichlich vorhandenen Grau einer Existenz, das sich, je nach Handlungsfluß, unterschiedlich kräuselt und dabei immer neue zarte Farbtöne erkennen läßt. Mag die Erzählperspektive auch nicht immer ganz aufgehen, so fasziniert dieser Roman vom Kellner im Hotel am Berg, als wäre ein üppiger Zauberberg im verinnerlichten Mattglanz einer einfachen Liebesgeschichte neu abgelichtet worden.
JOSEPH HANIMANN
Alain Claude Sulzer: "Ein perfekter Kellner". Roman. Edition Epoca, Zürich 2004. 219 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main