Gruppe passiert, entdeckt einer der Halbwüchsigen im Haar des dunkelhäutigen Mädchens eine Laus, sie greifen sich das Kind, nehmen es mit, vorgeblich, um es von den Plagegeistern zu befreien, tatsächlich aber, um es zu quälen, zu demütigen und es büßen zu lassen. Doch büßen wofür eigentlich? Nicht nur mit dieser Frage lässt Clémentine Beauvais ihre Leser allein: schockiert, bedrückt und ratlos.
Die Fünf sind eine traurige Truppe: empathielos die einen - die gereizte Anne-Laure, der aufbrausende Gonzague und der aggressionsgeladene Florian -, fügsam und seltsam teilnahmslos die anderen, so dass nicht einmal der Rest an Anstand und Mitleid, der sich bei der leicht abwesenden Élise und bei David, dem undurchschaubaren Erzähler, regt, zu einem Ende des üblen Treibens führt.
Eine vorhersehbare Handlung, kaum entwickelte Charaktere und keine Antwort, wie es zu einer Tat wie dieser kommen konnte: Was hätte schiefgehen können, ist bei Beauvais zu einem kleinen, ebenso verstörenden wie fesselnden Meisterwerk geworden, dessen rätselhafte Kraft weit über die letzte Seite hinausreicht - in einer Sprache, die die Tristesse und die Verrohung der jungen Menschen beängstigend greifbar macht.
"Warum, warum, warum . . . es gibt kein Warum", versucht David gleich zu Beginn jede Hoffnung auf Erklärung im Keim zu ersticken. Aber entführt und peinigt man ein Kind wirklich grundlos, zufällig? Los lässt das Forschen nach dem Warum den Leser nicht mehr, obwohl es bequemer wäre, den Gründen nicht nahezukommen, denn die Geschichte in Beauvais' Roman ist nicht schreckliche Fiktion, sondern beängstigend nah an der Wirklichkeit: (Noch) ungestraft dürfen in diesem Land erwachsene Menschen Asylbewerber öffentlich als "Dreckspack" bezeichnen - wofür Pegida-Anführer Bachmann nun angeklagt wird -; immer häufiger wird das Wort "Überfremdung" vorschnell im Munde geführt, als seien, um im Bild zu bleiben, Flüchtlinge eine Ärger machende Laus im Pelz von Ordnung und Wohlstand.
Anne-Laure, Gonzague und die anderen kratzen sich, längst für ihr rassistisch motiviertes Verbrechen im Gefängnis sitzend, immer wieder die Schädel blutig, ganz ohne Lausbefall. Auch ohne diese überhöhte Parasiten-Symbolik, in der sich Beauvais am Ende etwas zu verlieren droht - die einzige kleine Schwäche des Buches - ist dem Leser klar: Es juckt sie nur. Ob es sie auch nachhaltig kratzt, was sie getan haben, das bleibt offen.
Clémentine Beauvais: "Dreckstück".
Aus dem Französischen von Annette von der Weppen. Carlsen Verlag, Hamburg 2015. 96 S., geb., 11,99 [Euro]. Ab 13 J.
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