deux existences" erscheint jetzt aber erstmals ein Text auf Deutsch, der es lohnt, sich noch einmal mit diesem Autor zu beschäftigen.
Entstanden sind diese Skizzen, halb Tagebuchnotizen, halb Rückbesinnung, wohl in den letzten Lebensjahren des 1944 verstorbenen Autors. Sie springen zwischen frühen Kindheitsszenen und Altersbetrachtungen hin und her. Auch darauf dürfte die im Titel angezeigte Doppelexistenz anspielen: nicht nur das Nebeneinander von Diplomaten- und Schriftstellerlaufbahn also, sondern ebenso das Ineinander von Kindheit und Reife. Über alle Zeitsprünge hinweg sind diese Notizen in einem durchgehenden Präsens geschrieben. Die skurrile Selbstironie der beschriebenen Szenen verleiht dem Ganzen einen Grundton, der existentielle Grenzerfahrung mit Beiläufigkeit aufwiegt und die ganze Welt auf dem Muster einer Badehose Platz finden lässt.
Im Sommer 1933 erholt Giraudoux sich am Mittelmeer. Sein Sohn tummelt sich mit einem Mädchen, das zufällig die Tochter der Opernsängerin Margarete Matzenauer ist. Giraudoux hatte die schöne Frau vor Jahren in München kennengelernt und sieht sie nun, kugelrund geworden, auf ihn zukommen: "Sie verdeckt mir das Meer und den Horizont mit ihrem Badeanzug, der mit einer Weltkarte bedruckt ist. ,Wie klein die Welt ist!' sagt sie zu mir." Oft gönnt der Autor uns aber nicht einmal die Pointe und lässt die Szenen von sich aus ins Offene sprechen, wie der Lederriemen es tut, an dem er jeden Morgen sein Rasiermesser wetzt. Das leise Kreischen der Klinge bildet jeden Tag andere Worte im Ohr, die wie Eingebungen klingen - "Niemals je, niemals je", "So was auch, so was auch", "Wer bist du? Wo bist du?", "Die Zeit vergeht, die Zeit vergeht". Unter diesen Voraussetzungen bekommen auch die auf politische oder literarische Aktualität sich beziehenden Eintragungen einen Schein von Irrealität, der sie in Richtung der Traumvision drängt.
Nach der französischen Niederlage 1940 phantasiert der Autor sich als leibhaftiges Frankreich: "Ist es das erste Mal, dass ich besiegt worden bin?" Der Sieg ist ihm nicht nur deshalb verhasst, weil es der Sieg der Anderen ist, sondern weil er auf einem Missverständnis beruht. Die deutschen und die französischen Feinde haben gegenseitig nur Rollen gespielt - der eine wollte einen Herrschaftsanspruch töten, den es gar nicht gab, der andere wollte etwas verteidigen, was ihm längst nicht mehr gehörte. Das phantasierte Frankreich schließt daraus bei Giraudoux voll Zuversicht: "Die Niederlage hat an mir nichts bewirkt. Ich muss mich nicht verändern." Der seit seinem "Siegfried"-Roman und dem gleichnamigen Theaterstück als vorzüglicher Deutschland-Kenner ausgewiesene Autor steht auch nach 1940 noch über den Fronten, nur etwas illusionsferner als zuvor.
Auf der Ebene des Privatlebens kann solche Illusionslosigkeit sich nur mit Anekdoten Luft machen. Als junger Botschaftsanwärter wird Giraudoux zum Ministerialsekretär Philippe Berthelot gerufen und erfährt dann auch den Grund für die Ehre. Berthelot hatte zuvor Paul Claudel bei der Lektüre einer Zeitschrift lachen sehen und diesen gefragt, weshalb er lache. Weil er gerade zwei Sätze von Giraudoux gelesen habe: "Ein Pferd lief vorüber. Die Hühner folgten, von Hoffnung erfüllt." Diesem nicht einmal komischen Umstand verdankt der Autor möglicherweise seine Diplomatenlaufbahn. Im Doppelleben kichert immer ein anderer - und wo kein anderer mehr da ist, meldet sich zumindest ein Papagei: der in diesen Memoiren mit allerlei komischen Geschichten allgegenwärtige Vogel.
Der bei Giraudoux im Werk oft etwas zu hoch klingende Witz hat in diesen knappen Erinnerungsskizzen den metallenen Glöckchenklang abgelegt und vor allem dank Joachim Kalka, dem Herausgeber und Übersetzer, zusätzliche Klangbreite bekommen. Selbst wenn das postum veröffentlichte Bändchen nicht seine endgültige Form erreicht haben sollte, verrät die überlieferte Komposition, wie schmal, leichtfüßig und doch testamentarisch es angelegt war. Die letzte Szene spielt am Schreibtisch in Paris, der über dem Park des Palais-Royal steht. Jeden Morgen um elf Uhr, wenn der Autor sich ans Werk macht, weint unten ein Kleinkind. Statt eines Rufes nach Nahrung, Schutz oder Tröstung ist dieses Weinen aber nur ein gegenstandsloses Wimmern, eine Art Singen, ein "Tränengezwitscher", wie man es von erwachsenen Menschen erwarten soll: an der Schwelle zur Ewigkeit. Die Ewigkeit von Jean Giraudoux hat aber auch damit noch nicht begonnen.
JOSEPH HANIMANN
Jean Giraudoux: "Doppelmemoiren". Aus dem Französischen übersetzt, mit einem Vorwort und Anmerkungen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2008. 119 S., geb., 19,- [Euro].
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