Silvers Geheimnis. Jedenfalls waren einige Leute bereit, sich den Floh vom fröhlichen Menschenkopieren ins Ohr setzen zu lassen. Heute, knapp fünf Jahre nach der Geburt von Dolly, sind wir an dem Punkt, an dem ein paar Reproduktionsspezialisten offenbar wild entschlossen sind, ihre kühnen Klonträume ins Werk zu setzen. Die beiden Männer jedoch, die den Stein mit der Herstellung des Klonschafes am Roslin-Institut ins Rollen gebracht haben, Ian Wilmut und Keith Campbell, halten von solchen biotechnologischen Utopien überhaupt nichts. In ihrem Buch, das sie zusammen mit dem britischen Wissenschaftsautor Colin Tudge vor knapp zwei Jahren in Großbritannien ("The Second Creation") veröffentlicht haben und das jetzt mit dem programmatischen Titel "Dolly - Der Aufbruch ins biotechnische Zeitalter" auf den deutschen Markt kommt, tun sie ihr Möglichstes, den Blütenträumen der "Menschenmacher" (Richard Kaufmann) so wenig Nahrung wie möglich zu geben.
Wie eine Beschwörungsformel wiederholen sie den Satz: "Wir sind gegen das Klonen von Menschen." Doch in der Penetranz, mit der sie ihre moralischen und wissenschaftlichen Bedenken äußern, liegt auch zugleich eine Warnung: Die Klontechnik, so ihre Botschaft, ist ein äußerst machtvolles Instrument. Ein Werkzeug, das zusammen mit der Gentechnik und der Zellforschung die Menschen am Ende tatsächlich in die Lage versetzt, jener verführerischen "Bastelsucht" nachzugeben, vor der Erwin Chargaff und andere schon vor Jahrzehnten eindringlich gewarnt haben.
Unweigerlich stellt sich ein ungutes Gefühl ein, wenn Wilmut und Campbell im prophetischen Ton das aufziehende "Zeitalter der biotechnischen Kontrolle" annoncieren und gleichzeitig vor den Ausschweifungen des Menschenklonens warnen. Wer will verhindern, daß die Menschen zum Äußersten gehen, fragt man sich, wenn die Forscher wirklich die technischen Fertigkeiten besitzen und die Mediziner den moralischen Vorwand (zum Beispiel sexuelle Unfruchtbarkeit) dazu liefern?
Mit dieser Frage beschäftigen sich auch Wilmut und Campbell. Allerdings hat das Buch der beiden Klonpioniere einen ganz anderen, unverfänglicheren Schwerpunkt. Über weite Strecken handelt es nämlich nicht von der Zukunft, sondern von der erstaunlich langen Geschichte des künstlichen Klonens. Und in der hat man lange Zeit hauptsächlich Deutsch gesprochen. Tatsächlich muß, wer nach den Wurzeln der Klonforschung sucht, vor allem im deutschsprachigen Raum suchen. Zwei Biologen von Rang gelten Wilmut und Campbell als die modernen Initiatoren der Klonforschung: der Freiburger August Weismann und Hans Spemann, der lange Zeit das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie leitete und der in einem 1938 erschienenen Buch sein "phantastisches Experiment" vorschlug, das sich wie ein Protokoll zur Herstellung von Dolly liest: Spemann schlug vor, Tiere zu klonen, indem man aus einer differenzierten Zelle den Zellkern entnimmt und diesen in eine zuvor entkernte Eizelle verpflanzt.
Dem deutschen Embryologen kam ebensowenig wie später Robert Briggs und Thomas King, die Frösche aus Kaulquappen klonierten, in den Sinn, diese Technik könnte eines Tages die Fortpflanzungsgewohnheiten des Menschen um eine asexuelle Variante erweitern. Die Geschichte des Klonens läßt nach der Interpretation Wilmuts und Campbells vielmehr nur den einen Schluß zu: Daß es bis in die jüngste Zeit im Grunde niemand ernsthaft für möglich gehalten hatte, Homo sapiens würde sich jemals in die lange Reihe der "niederen" Organismen einreihen, die neben der sexuellen auch eine vegetative Form der Vermehrung pflegten. Und zu dieser skeptischen Mehrheit zählt sich durchaus auch Ian Wilmut. Obwohl der an der Universität von Nottingham ausgebildete Embryologe bereits seit Anfang der achtziger Jahre an Klonprojekten arbeitete, zweifelte er bis zur Geburt von Dolly und einem halben Dutzend anderer Klonschafe an der Machbarkeit seines kühnen Planes: Aus einer gewöhnlichen Körperzelle einen vollständigen Organismus zu rekonstruieren war zumindest bei Säugetieren bis Mitte der neunziger Jahre niemandem gelungen - zumindest konnte es keiner glaubhaft nachweisen.
Wie fast alle Biologen war auch Wilmut von der Gültigkeit eines biologischen Dogmas überzeugt, das besagte, daß sich das Erbmaterial aus einer weitgehend differenzierten Zelle nicht mehr reprogrammieren läßt, jedenfalls nicht so weit, daß man damit einen vollständigen Organismus herstellen kann. Anders sein wissenschaftlicher Partner Keith Campbell, ein offensichtlich progressiverer und wagemutigerer Zellbiologe, den Wilmut in den neunziger Jahren an das Roslin-Institut holte. Den Schilderungen Wilmuts zufolge war es vor allem der Hartnäckigkeit und der methodischen Kreativität Campbells zu verdanken, daß die schottische Gruppe den entscheidenden "Trick" zum Klonen aus Körperzellen gefunden hat. Ein Trick, der grob gesagt darin besteht, den Teilungszyklus der entkernten Eizelle und des eingepflanzten Erbmaterials so genau aufeinander abzustimmen, gleichsam zu synchronisieren, daß das genetische Programm im "rekonstruierten Embryo" reibungslos abgerufen wird.
Welche experimentellen Feinjustierungen für diese Laborarbeiten nötig waren, wird von Wilmut, Cambell und Tudge ausführlich beschrieben. Überhaupt zählt zu den Stärken dieses Buches, daß die Forscher sich nicht scheuen, dem Leser viele Details - "wissenschaftliche Information aus erster Hand", wie der Verlag zu Recht offeriert - an die Hand zu geben. Stolz zeigen sie ihre Kreationen vor, ein Konzert von Klonschafen mit so eingängigen Namen wie Polly, Tracy, Megan oder Morag. Dazu werden für die aktuelle ethische Debatte relevante Hintergrundinformationen geliefert, die Begründung etwa, warum viele in Großbritannien (aber nicht nur dort) dazu neigen, den ersten Lebensstadien eines Embryos einen personalen Sonderstatus zu geben ("Präembryo") und diesen konsequenterweise als Experimentiergut zuzulassen. "Gegen die Vorstellung, daß die Zygote selbst ein neues Individuum sei, sprechen die biologischen Details", meinen Wilmut und Campbell, denn der mütterliche und der väterliche Chromosomensatz kommen nicht sofort nach der Befruchtung, sondern erst nach der ersten Teilung im zweizelligen Embryo zusammen. Und weiter schreiben die beiden Klonforscher: "Die Phase, die wir mit unabhängigem Leben assoziieren - wenn die Gene nicht nur zusammenarbeiten, sondern auch wirklich Proteine herstellen -, beginnt bei Menschen, Schafen und Rindern nicht vor dem Achtzellstadium." Die biologische Relativierung des Lebensbeginns hat weitreichende Folgen: Für Wilmut und Campbell scheint es nicht nur zulässig, die frühen Embryos ("cell balls") für die Forschung zu verwenden, beispielsweise für das sogenannte therapeutische Klonen und die Gewinnung von embryonalen Stammzellen. Sie halten solche Manipulationen des potentiellen medizinischen Nutzens wegen sogar für geboten.
Das Motiv des Heilens hat die beiden Klonpioniere schließlich auch zu der Überzeugung gebracht, daß die Gentechnik mit einem gewissen Automatismus vorangetrieben wird. "Wir stehen an der Schwelle zum Zeitalter der biologischen Kontrolle und müssen uns moralisch und politisch darauf einstellen." Der durchdringende Appell der Klonpioniere für ein Tabu des reproduktiven Klonens wirkt im Lichte solcher Zukunftsaussichten am Ende sonderbar fremd.
Ian Wilmut, Keith Campbell, Colin Tudge: "Dolly". Der Aufbruch ins biotechnische Zeitalter. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Carl Hanser Verlag, München 2001. 408 S., 8 Tafeln, geb., 49,80 DM.
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