Anfang der 2010er Jahre neben seinem Bürojob in die Entwicklungen rund um den Arabischen Frühling hineingezogen wurde. Menschen in Ländern wie Ägypten oder Tunesien stellten Bilder und Videos von den Protesten ins Netz, wo sie Zuschauern das Gefühl vermittelten, gleichsam dabei sein zu können. Obwohl der Bellingcat-Gründer kein Arabisch spricht, fand er sich bald in einer Netzgemeinde wieder, die Momentaufnahmen aus Videos zu einem strategischen Überblick zusammenfügen wollte, den die traditionellen Nachrichtenangebote aufgrund der gefährlichen Lage oder staatlicher Repressionen nicht bieten konnten.
Als 2011 der Aufstand gegen das Regime Muammar al-Gaddafis in Libyen eskalierte, analysierte Higgins in seinem pseudonym geführten Weblog "Brown Moses" den Strom von Informationen, die Journalisten und Revolutionäre ins Netz stellten. Higgins vernetzte sich mit Reportern und anderen Kennern der Region, um die Kriegsereignisse anhand der online vorhandenen Text- und Videodokumente räumlich und zeitlich genau zu verorten. Sie teilten Netzfunde sowie Expertise und waren den Profis der Nachrichtendienste dabei oft einen Schritt voraus. "Brown Moses" wurde selbst zur Nachrichtenquelle.
Die Schwarmrecherche funktionierte so gut, dass Higgins 2014 mit finanzieller Hilfe über die Crowdfunding-Website Kickstarter sein Projekt Bellingcat ins Leben rufen konnte. Der Bürgerkrieg in Syrien nahm dabei eine Brückenfunktion ein, denn wer die Taten eines Baschar al-Assad unter die Lupe nahm, traf schnell auf dessen Verbündete aus Russland. Eine der wichtigsten Recherchen von Bellingcat rekonstruierte die Vorgänge um den Abschuss des Fluges MH17 der Malaysia Airlines am 17. April 2014 über der Ukraine. Bellingcat durchkämmte das Netz und stieß auf Indizien, die wenig Zweifel daran ließen, dass die Maschine von einer russischen Luftabwehrrakete getroffen worden war.
Auch als der ehemalige russische Agent Sergej Skripal 2018 im britischen Salisbury vergiftet wurde, identifizierte Bellingcat zwei seiner Landsleute, Geheimdienstoffiziere, die sich, mit Tarnidentitäten versehen, zur Tatzeit am Tatort befunden hatten. Die russische Regierung dementierte die Enthüllungen und versuchte, die Glaubwürdigkeit des Rechercheportals zu erschüttern.
Higgins beschreibt seine Arbeit sachlich, detailliert und chronologisch. Politisch interessierten Lesern dürften viele der Vorgänge bereits bekannt sein, deshalb ist die Lektüre für Zeitgenossen ergiebiger, die sich um den Zustand der Medienlandschaft unter Bedingungen des Internet-Oligopols sorgen.
Auf den ersten Blick mag Bellingcat wie eines jener parajournalistischen Angebote erscheinen, die fester Bestandteil der Internetfolklore sind: Cryptome von Deborah Natsios und John Young oder das frühe Wiki-Leaks. Bellingcat ist aber kein Unort, an dem Dokumente auftauchen, es ist eine journalistische Organisation, die Fakten recherchiert und einordnet. In einer medialen Umgebung, die von Fälschungen und Desinformation geprägt sei, könne Higgins zufolge nur absolute Offenheit Vertrauen schaffen. Jeder Schritt bei der Recherche müsse genau dokumentiert und geprüft werden, alles solle nachvollziehbar sein. In Geheimdienstkreisen wird dieses Vorgehen als "Osint" bezeichnet, Open Source Intelligence. Experten untersuchen frei verfügbare Quelldokumente und setzen sie zu einem Lagebild zusammen. Higgins holt diese Methode in die Öffentlichkeit.
Recherche ist zeitintensiv und teuer. Deshalb musste sich Bellingcat im Laufe seiner kurzen Geschichte wandeln. "Brown Moses" ist aus Higgins' Frustration mit den traditionellen Nachrichtenangeboten entstanden. Er schreibt, diese würden sich vor allem auf undokumentierte Quellen aus Regierungskreisen verlassen und immer weniger Geld in die Recherche investieren. Bellingcat sollte Abhilfe schaffen. Nicht umsonst wurde es zu einer Zeit gegründet, in der Konzerne wie Google und Facebook den traditionellen Nachrichtenmedien zunehmend die wirtschaftlichen Grundlagen entzogen - und gleichzeitig neue News-Jagdgründe wie Youtube oder Google Maps erschufen, denen kluge Rechercheure wie Higgins neue Erkenntnisse entreißen konnten.
Das Netz hat auf wissensbasierte Branchen einen rationalisierenden und damit desorganisierenden Effekt, der zunächst paradox erscheint. Einst stark ausdifferenzierte journalistische Organisationen müssen sich aus Geldmangel auf niedrigerem organisatorischen Niveau neu aufstellen. Keimzellen neuer journalistischer Organisationen wie das frühe Bellingcat wiederum muten strukturell - nicht methodisch - frühmodern an. Sie publizieren unregelmäßig, verlassen sich nicht auf eine breit aufgestellte innere Organisation, sondern auf schnell wechselnde kundige Beiträger. Damit erinnern sie an die Vorläufer der Tageszeitungen, die Messrelationen des sechzehnten Jahrhunderts, in denen Kaufleute und andere Reisende anlässlich der Messen in Frankfurt oder Leipzig geschäftlich relevante Ereignisse notierten.
Higgins versucht, seine journalistische Organisation unter den Bedingungen der Netzoligarchie zu konsolidieren und weiterzuentwickeln, ohne seine Unabhängigkeit oder Glaubwürdigkeit zu verlieren. Sein Bericht liest sich wie ein Modernisierungsprozess im Zeitraffer. Erst erfolgt die Anschubfinanzierung über Subskription, dann werden neue Produkte wie Rechercheseminare angeboten und Mitarbeiter angestellt. Schließlich wird die Publikationstätigkeit verstetigt. Während Bellingcat zu einer modernen journalistischen Organisation mit eigenen Produktionsmitteln heranreift, nähert es sich auch den entsprechenden Methoden an. Beschwert sich der Blogger Higgins am Anfang seines Buchs noch über die anonymen Zuträger in traditionellen Nachrichtenmedien, rechtfertigt der Medienunternehmer Higgins am Ende den Schutz einer Quelle, die ihm russische Flugpassagierdaten verkauft hat. Dieser Aspekt des eigenen Wandels wird in "Digitale Jäger" leider nur in Form einer Start-up-Erfolgsgeschichte reflektiert.
GÜNTER HACK
Eliot Higgins:
"Digitale Jäger".
Ein Insiderbericht aus
dem Recherchenetzwerk Bellingcat.
Aus dem Englischen von Wolfgang Seidel. Quadriga Verlag, Köln 2021. 287 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main