Rahmung gar nicht vorstellbar wären.
So tief ruhen die puerilen Delikte, von denen der Roman handelt, in einer populären, romantischen Kultur und so wenig lassen sie sich auf den Begriff einer individuellen strafbaren Verfehlung bringen, dass man die Polizisten versteht, die René-Jean, nachdem sie ihn ordentlich verprügelt haben, wieder laufen lassen. Sie wissen selbst am besten, dass all die kleinen René-Jeans aus dem Vorstädten Marseilles einer anderen Loyalität verpflichtet sind, in der die Not der Familie zu lindern, ihre Ehre zu verteidigen und das jungmännliche Heldentum unablässig zu erproben ist. Eines kann man von René-Jeans Straftaten nämlich nicht behaupten: dass sie der Langeweile entsprängen. Sie sind notwendig, und deshalb wird der Held und Dieb, wenn am Ende des Romans der Polizeiwagen kommt, ohne Anzeichen von Reue mit der blauen Minna "in den schwarzen Himmel" fahren.
Den Neorealismus vergangener Tage spitzt Frégnis Roman auf karnevalistisch-anarchistische Weise zu. Hier ist alles eine Spur roher, gemeiner und auch witziger als etwa in den "Fahrraddieben". Gewiss, die gesellschaftlichen Gegebenheiten sind die altbekannten. Das heißt, man kommt, wenn man in Château-Gombert am steinigen Rand Marseilles zur Welt kommt, auch bei gutem Willen kaum mit Anstand über die Runden. Erst recht nicht, wenn der Vater, gebürtiger Korse, zu nichts taugt und, als er einmal einen Posten als Rattenvertilger in den Docks ergattert hat, wegen angeblichen Kaffeebohnendiebstahls in U-Haft landet. Und wenn die Mutter, Krankenschwester und Sozialarbeiterin, vor all den Nackenschlägen schließlich in die Gemütskrankheit emigriert. Da hilft es auch nicht mehr entscheidend, dass die Großmutter, beherrschende Persönlichkeit der Familie, nach vierzigjährigem Wirken in der Grundschule ihr resolutes Wesen ganz in den Dienst der Familie und der KPF gestellt hat. Das familiäre Unheil, von dem der Roman handelt, wird freilich von René-Jean, dem Knaben mit dem unstillbaren Verlangen nach der Mutterbrust und dem verrutschten linken Auge, nicht nur scharf beobachtet, sondern auch ganz erheblich mit verursacht. René-Jean ist ein merkwürdiges Kind: ein schwer erziehbares Muttersöhnchen, das bei seinen Rachefeldzügen nichts als der Wunsch nach einem Halt an Mutters Rockzipfel zu befeuern scheint. Ein, wie der Rektor einer seiner Schulen bemerkt, ziemlich verdorbenes, aber dabei sehr familienbewusstes Monster.
In der Schule hat René-Jean, wie er sich erinnert, "die eigentliche Bösartigkeit" erworben. Er hat sie erwerben müssen, weil ihn sonst wegen des verrutschten Auges ein endloser Spießrutenlauf erwartet hätte. Der Roman schildert anschaulich die Techniken, mit denen man sich auf Marseilles Vorstadtschulhöfen Respekt verschafft. Häufige Schulwechsel können dabei nicht ausbleiben. Den Höhepunkt des Romans stellt René-Jeans Ausflug in die Welt der Freinet-Pädagogik dar. Unbeschadet und gänzlich unbelehrt übersteht er die Versuche von "Papa" Freinet, in seinem Herzen das Feuer der Kreativität zu entzünden.
"Papa Freinet", heißt es, "schmökerte unersättlich im Arsenal animierender Methoden, die Kinder erwecken. Irgendwann zog er jedem eine Leidenschaft für irgendetwas aus der Nase." Nur René-Jean nicht. "Kann sein Schuljahr nicht beenden, hat seine Möglichkeiten erschöpft", steht einmal in seinem Zeugnisheft. Tief in René-Jean schlummern indes andere Kreativitäten und Möglichkeiten, die ihn wenig später aus der sechsten Klasse des ersten Reformgymnasiums von Marseille in die vorderste Reihe der örtlichen Trickdiebe befördern werden. Es ist nicht die blanke Not allein, die ihn dabei antreibt; es ist der Ehrgeiz, in diesem Handwerk geschickter zu sein als andere. Eigentlich ist es auch nicht klar, ob dieser René-Jean überhaupt ein "Dieb aus Unschuld" ist, wie es der deutsche Romantitel suggeriert. Viel eher ist es so, dass René-Jean einmal die Unschuld verloren ging, abhanden kam, gestohlen wurde und dass er sich das Rüstzeug zulegen musste, um im Kampf um Ehre, Mädchen und Familie zu bestehen. Frégni glorifiziert die Karriere seines Helden nicht, er erklärt sie auch nicht, er erzählt sie nur: mit Respekt und manchmal mit einem Schuss Bewunderung für so viel Tüchtigkeit.
Sein Roman überschreitet die üblichen sozialrealistischen Koordinaten des Jugendlichen-Delinquenten-Romans. Ihn interessiert die schiefe Bahn seines Helden eher in ästhetischer als in moralisch-psychologischer Hinsicht. Und dasselbe gilt für seine Romanfigur. So selbstbewusst wie René-Jean in den Polizeiwagen steigt, der ihn ins Gefängnis befördern wird, spricht alles dafür, dass er nach verbüßter Strafe seinem Lebensroman eine neue, artistische Wende geben wird.
CHRISTOPH BARTMANN.
René Frégni: "Dieb aus Unschuld". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock. Rotbuch Verlag, Hamburg 1999. 277 S., geb., 38,- DM.8,- DM.
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