geworden und schreibt seit vielen Jahren kulinarische Texte. Den Leser erwartet eine ausgesprochen komplex angelegte Arbeit mit einer Vielzahl von historischen Quellen, denen immer wieder Impressionen aus der kulinarischen Kultur der deutschen Gegenwart gegenübergestellt sind. Im Kapitel über den "ausgewählten Geschmack" etwa finden sich Ausführungen über die römische Stadt Trier und den antiken Humanismus und dazu ein Text über "Wein an der Mosel". Insgesamt gelingt das Vorhaben des Autors in den im engeren Sinne historischen Teilen in überzeugender Weise. Seitz hat eine Unmenge von Fakten zusammengetragen. Es geht über die höfische Kultur von Karl dem Großen, Otto dem Großen, Friedrich Barbarossa und Wolfram von Eschenbach über Ludwig den Bayern, die Fugger und Luther, die Jesuiten der Barockzeit in München und bis zu den frühen Kochbüchern aus deutscher Hand, die beweisen, dass man zu jeder Zeit auf Augenhöhe mit anderen europäischen Kulturen war.
Was zum Beispiel auch schon im Jahre 1580 Michel de Montaigne bemerkte: "Denn was die Aufwartung bei Tisch betrifft, machen sie solchen Aufwand an Lebensmitteln und bringen in die Gerichte eine solche Abwechslung..., dass kaum die Küche des französischen Adels damit verglichen werden kann." Im Detail pendelt Seitz ein wenig zwischen einer überbordenden Fülle von Informationen, die eigentlich nicht unbedingt in dieser Breite etwas mit dem Thema des Buches zu tun haben, und immer wieder überraschenden und kurzweilig zu lesenden Details.
Wie etwa die Darstellung der kulinarischen Aktivitäten der Katharina Luther, der Gattin des Reformators. Während die "kulturelle Verfeinerung" für Luther "kein Kernthema" war, entwickelte seine Frau mit großer Energie vor allem den kulinarischen Teil des später ziemlich wohlhabenden Haushalts. Da gab es wohl ein wenig unterschiedliche Positionen. Die adelig geborene Katharina dachte herrschaftlich, Luther eher nicht. Zitat: "Ich lob die reine, gute, gemeine Hausspeise." Von einem der Gäste ist überliefert, wie er andere Dinge sah: "Als man Wildfleisch und Wildvögel auf den Tisch setzte, sagte Luther: Ich esse kein Holz. Da kann ich gleich die Teller essen, die haben auch keine Feuchtigkeit."
Solche und ähnliche Pretiosen findet der Leser immer wieder. Dennoch bleibt ein wenig das Gefühl, dass Seitz eine Art Opus maximum abliefern wollte, in das er alles hineingepackt hat, dessen er irgendwie habhaft werden konnte. Das gilt auch für die eingestreuten Bilder aus der Gegenwart, die aus dem journalistischen Fundus des Autors stammen und insofern auch schon mal einen beiläufigen und nicht immer zwingend systematischen Zusammenhang mit dem Thema haben. Wer sich dann an den Titel erinnert und nach der Verfeinerung in Form der Spitzenküche sucht, wird enttäuscht werden. Wie in diversen seiner kulinarischen Texte hat Seitz Schwierigkeiten, den Stellenwert der avancierten Küche in der Gesellschaft zu bestimmen, und hält sich lieber - allerdings in Form einer völlig unkritischen Rezeption - an die frühe Phase der aktuellen deutschen Spitzenküche in den Jahren nach 1970.
Im Grunde ist er gewissermaßen gar nicht weit von Luthers "Hausspeise" entfernt, möchte diese dann aber sozusagen so fein wie möglich haben. Da "Verfeinerung" jedoch nicht wirklich rationierbar ist, hat das Buch in seiner Offenheit "nach oben" ein gewisses Manko. Und das, obwohl Wolfram von Eschenbach zitiert wird: "Stets aufs Neue schärfte er die Wahrnehmung sinnlicher Dinge: sei es die Feinheit der Stoffe, die Form des weiblichen oder männlichen Körpers, die Delikatesse der Tafel." Ist die ausgeweitete Sensorik der Spitzenküche, bei der wahrlich die Wahrnehmung sinnlicher Dinge geschärft wird, da kein vergleichbares, zu würdigendes Thema?
Bei seiner Analyse des "bourgeoisen Bohemiens" ("Bobo") in der Einleitung gibt es eine bezeichnende Stelle, in der Seitz so in Emphase gerät, dass er offenbar auch sich selbst meint: Der Bobo "erfährt den Zauber der Natur auch im Kleinen, beispielsweise im Nationalpark Bayerischer Wald beim Aufstieg zum Lusen, von Finsterau aus, wo zweihundert Jahre alte Tannen, Fichten und Buchen eine Höhe von vierzig bis fünfzig Meter erreichen". Wenig später heißt es: "Es fehlt die Balance zwischen natürlicher Einfachheit und kultivierter Verfeinerung." Nichts gegen die Gewichtung des Bodenständigen. Aber sie wirkt schal, wenn man sich - wie Seitz das tut - um das Entwickelte dann nicht wirklich kümmert. Immer wieder muss man deshalb den Eindruck gewinnen, als habe der Autor Mühe, seine ganz persönlichen kulinarischen Vorlieben unter die Kontrolle einer distanziert-wissenschaftlichen Sicht zu bekommen. Und so ist dieses Buch einerseits das beachtliche Werk eines sehr bemühten Historikers mit einer großen Materialmenge. Andererseits zeigt es einen zwischen den Dingen irrlichternden Autor, der nicht immer souveräne Denkhöhe erreicht.
JÜRGEN DOLLASE
Erwin Seitz: "Die Verfeinerung der Deutschen". Eine andere Kulturgeschichte.
Insel Verlag, Berlin 2011. 824 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
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