Die anderen beiden sind die Bewohner dieses Hauses: ein Mann, der keinen eigenen Namen trägt, und dessen Frau Pílar.
Als der Protagonist das erste Mal auftritt, heißt es über ihn nur: "Er liebt es, in seinem üppigen Garten oder im Kaffeewald zu verschwinden." Fortan wird er gar nicht mehr anders genannt als "der, der sich zwischen den Pflanzen verliert". In der Tat kommt dieser Mann der Welt abhanden, weil all sein Sinnen und Trachten der Perfektionierung des Domizils gilt. Über Haus und Garten vergisst er die Menschen - und sie vergessen irgendwann ihn.
Tomás González hat seinen Roman "Die Teufelspferdchen" in den siebziger Jahren angesiedelt, jenem Jahrzehnt, als Medellín zur Hochburg des Kokainhandels wurde und sich dort eine Parallelgesellschaft innerhalb Kolumbiens entwickelte, die ein eigenes Wirtschaftssystem, eigene Armeen und vor allem eine eigene Justiz installierte. In dem Haus hoch über der Stadt ist davon wenig zu spüren, aber die Söhne der Nachbarn fallen den Bandenkriegen zum Opfer, und bisweilen stehen die Rächer sogar vor der Tür, doch das Ehepaar am Berghang hat sich seine eigene Welt geschaffen, in der die reiche tropische Natur ein unauflösbares Bündnis mit dem Menschenwerk eingegangen ist. Permanent werden im Laufe der Handlung um das Grundstück Mauern und Zäune errichtet, am Haus Gitter angebracht und Tore verstärkt, doch jede Befestigung ist durchwirkt mit floraler Pracht, so dass die Retraite des Ehepaars ein blühendes Bollwerk gegen alle Zumutungen der Umgebung darstellt.
Dem Geschehen ist ein Zitat aus "Robinson Crusoe" vorangestellt: "Auf dieser Palisade oder Festung trug ich unter unendlichen Mühen meine ganze Habe zusammen." Das trifft auf den namenlosen Protagonisten zu, aber auch auf den Autor González selbst, der seine Bücher als Zufluchtsorte nutzt, in denen er sein Leben versammelt. Deren Sprache ist nicht maßlos oder schwelgerisch genug, um das Verlangen eines breiten europäischen Publikums nach Exotik befriedigen zu können, aber sie weist eine viel eher an dem mexikanischen Autor Juan Rulfo als am kolumbianischen Landsmann Gabriel García Márquez geschulte Präzision der Wortwahl auf, die bei der Lektüre hohe Konzentration voraussetzt. In seinem Nachwort legt der Übersetzer Peter Schultze-Kraft Rechenschaft ab über die Eindeutschung einer solchen Prosa. Allerdings hat schon zuvor das Resultat für sich gesprochen.
Immer wieder wird etwa der Blick auf die Stadt im Tal beschworen, doch jedes Mal wandelt sich durch leichte Variation des rast- und morallosen Lebens dort unten die Sprachmelodie um entscheidende Nuancen. Das Bild einer Metropole, in der alles beim Alten bleibt - die ihre Früchte portionierenden Obstverkäufer, die über finanzielle Angelegenheiten debattierenden Kaffeehausbesucher, die Flugzeuge am Himmel -, täuscht, denn mal sind es Ananas-, dann Mangoverkäufer, mal geben ungedeckte Schecks das Gesprächsthema ab und dann Gewinnspannen, mal starten Flugzeuge, und dann landen sie. Diese im Einzelnen wechselnden Beobachtungen werden zudem von González miteinander kombiniert, so dass sich eine auf den ersten Blick fünffach wiederholte Textpassage als fünffach individuelle Situationsbeschreibung erweist. Das Leben in Medellín ist ungleich lebendiger als das im Haus darüber.
Dabei gibt es auch Szenen von subtiler Komik, an denen uns González im verwunschenen Heim teilnehmen lässt: die unterschiedliche Reaktion der Gäste auf die Dusche etwa, über der der Hausherr das Dach fortgelassen hat. Oder die steten Beteuerungen einer Tante, nie wieder werde sie zu Besuch kommen, doch natürlich trifft sie samt Tochter immer wieder ein. Es entfaltet sich auch ein gewaltiges Familienpanorama, das hinter dem Unverständnis für die Isolation des Ehepaars am Berghang die Leidenschaft erkennen lässt, von denen all diese Menschen beherrscht werden.
Drei der bisher vier Romane des 1950 in Medellín geborenen Tomás González sind bislang auf Deutsch erschienen, dazu ein Band mit drei längeren Erzählungen. In alle diese Bücher ist viel Autobiographisches eingeflossen. Namentlich die Romane erzählen nur leicht kaschiert vom Leben des jungen Schriftstellers, der in seiner Prosa unter dem Namen David firmiert - Künstler und Jüngster unter vier Brüdern, deren Schicksale in wechselnder Folge den Stoff der Romanhandlungen abgeben.
So war es in dem vor zweieinhalb Jahren auf Deutsch erschienenen, im Original bereits 1983 publizierten "Am Anfang war das Meer" der dritte Bruder J., dessen ungleich herrischere Form der Landnahme den Erzählstoff bot - bis hin zum Tod von J. im Jahr 1977. In den "Teufelspferdchen" ist er wieder vertreten; wir sind in der Zeit gegenüber der Handlung des älteren Romans also zurückgegangen; doch dafür erzählt das neue Buch über 1977 hinaus.
Am Schluss heißt es: "Manchmal vergehen viele Stunden, ohne dass auf den vier Hektar eine menschliche Stimme zu hören ist. Aber fast die ganze Zeit ist angefüllt mit dem Klang der Hacke oder dem Klang der Machete, und mittendrin hört man ihn wie ein Tier zwischen den abgehauenen Ästen rascheln." Ihn - das meint den namenlosen zweiten Bruder, der auf diese Weise David, der in den "Teufelspferdchen" nur eine Nebenrolle spielt, genauso verlorengeht wie die beiden anderen Brüder.
Der Titel des Romans verdankt sich einer volkstümlichen Bezeichnung für Libellen: caballitos del diablo. "Dieses Insekt", so wird einmal im Buch ein Lexikoneintrag zitiert, "hält sich im Gleichgewicht in der Luft." Genau das versucht auch das Ehepaar hoch über der Stadt. Doch die Menschen, das macht Tomás González ganz klar, sind dazu nicht gemacht. Wenn ihre Hoffnungen zu fliegen versuchen, sind sie wie der Rauch über Medellín: hilflos.
- Tomás González: "Die Teufelspferdchen". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Peter und Ofelia Schultze-Kraft unter Mitarbeit von Rainer Schultze-Kraft. Edition 8, Zürich 2008. 172 S., geb., 17,80 [Euro].
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