Zugewinngemeinschaften". Absturz und Selbstzweifel kommen bei solchen "Siegerländerinnen" und "Siegerländern" nicht vor.
"Zonengabis", wie sie Judka Strittmatter in ihrem Roman "Die Schwestern" beschreibt, leiden unter solcher "Arroganz und Egozentrik". Sie leben im Imperfekten. Nie haben sie gelernt, mit Robert Gernhardt "Ich, Ich, Ich" zu sagen. Dem westlichen Wettbewerbsregime sind sie nicht gewachsen. Sie vermissen die verwirrten Omas und die verkrachten Existenzen im Hinterhof, das Gespräch, den Zusammenhalt und die Ahnung, dass es ein ganz anderes Leben im Unmöglichen geben könnte.
Martha Andruschat, Judka Strittmatters Antiheldin und "Sozialtante" der Hauptstadtjournaille, kennt den Herzschlag und die offenen Wunden der Ossis. In einem Funktionärshaushalt der DDR groß geworden, kämpft sie noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter mit der Lieblosigkeit der Eltern, deren Erziehung vor allem im Überwachen und Strafen der beiden Töchter bestand. Marthas Freund Viktor zählt nicht zu den kreativen Alpha-Männchen, sondern ist ein Nerd. Anders als ihre gutsituierte und verheiratete Schwester Johanne hat sie den Kontakt zu den Eltern abgebrochen.
Die Kommunikationsunfähigkeit der Familie wird durch eine zentrale Figur des Romans noch überboten: Onkel Kurt alias Erwin Strittmatter. Kurt/Erwin gilt als gefeierter DDR-Schriftsteller, der seine antibürgerliche Haltung so weit treibt, dass er den Verwandten aus dem Weg geht. Nicht zufällig erscheint der Debütroman der Enkelin zu seinem hundertsten Geburtstag. In der pointiert gezeichneten Figur der Martha setzt sich die Autorin mit einer schweigenden Eltern- und Großelterngeneration auseinander. Großvater Strittmatter war nicht nur Informant der Staatssicherheit, sondern auch von 1941 bis 1945 Oberwachtmeister der Ordnungspolizei des Polizei-Gebirgsjäger-Regiments 18 und als solcher an Partisanenkrieg und Völkermord auf dem Balkan und in Griechenland beteiligt gewesen - eine biographische Tatsache, die Erwin Strittmatter selbst getilgt hatte.
Judka Strittmatter aber rechnet nicht nur mit der eigenen Herkunft, sondern auch mit dem Abrechnen ab. Ihr Roman, der bloß vordergründig als Familienroman daherkommt, ist dort spannend und wichtig, wo er DDR-Literatur nach der DDR-Literatur, Kreativenroman und Beinahe-Krimi wird. Hier lässt sich spüren, wie sehr die Vergangenheit das Leben unter Ossis und ihr Zusammenleben mit den Wessis noch immer vergiftet.
Während eines missglückten Versöhnungsurlaubs mit der Schwester stolpert Martha über eine Geschichte: Der Chef des einstigen Devisenhotels "Sandbank" wird Jahrzehnte nach dem Ende der DDR als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter enttarnt. Auch hier sind Verschweigen, Karrieren, Abhängigkeiten und - trotz allem - Sympathien am Werk. Marthas Jugendfreundin Esther, selbst Stasi-Opfer und leitende Angestellte im "Sandbank", weigert sich aus Angst um ihren Job und Zuneigung zu ihrem Chef, Zutaten für einen publizistischen Krimi auszuplaudern.
Der Wunsch, die Vergangenheit zu vergessen, mit dem Abrechnen Schluss zu machen, die alten literarischen Helden vom Sockel zu stürzen, das geeinte Berlin zu einer würdigen Hauptstadt zu machen - dies sind die entscheidenden und beklemmenden Motive in Judka Strittmatters Roman, der vor allem in seinen bissigen und überzeichnenden Passagen überzeugt. Selbst moralisch gewissenhafte Ossis sind des Aufarbeitens müde. Christa Wolf ist tot.
Judka Strittmatter verharmlost die Vergangenheitsverweigerung nicht, sondern stellt sie als anthropologisches Bedürfnis offen aus. Dafür mag man ihr manche Längen, eine allzu große Vorliebe für schillernde Attribute und einen matten Schluss verzeihen. Vielleicht wird die Enkelin die bessere Strittmatter.
SANDRA RICHTER
Judka Strittmatter: "Die Schwestern". Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2012. 280 S., geb., 19,99 [Euro].
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