ebenso wie viele andere, in Nizza gelandet ist. Erzählt wird, wenn auch nachträglich, aus der Perspektive ihrer dreizehnjährigen Enkelin, in einer Sprache, die die Empfindlichkeiten wie den Witz dieses Alters sehr gut trifft und von Claudia Steinitz ebenso gut ins Deutsche transportiert wird.
Nach und nach aber werden die anderen Schichten dieses Romans freigelegt. Über das Ausmaß seines autobiographischen Gehalts muss man hier nicht spekulieren, auch wenn es in der französischen Kritik hieß, Véronique Olmi habe "über ihre Großmutter" geschrieben. Mag sein. Vor allem aber hat sie einen Roman geschrieben, deren Erzählerin nicht Véronique heißt, sondern Sonja, und dieser Roman ist vertrackter, als er auf den ersten Blick erscheint.
Sonja lebt bei ihrer Großmutter, weil ihre Mutter unterwegs ist: "Meine Mutter verbringt ihre ganze Zeit damit, in alle Züge und aus allen Zügen zu steigen, die vorbeikommen." Für den Vater gibt es keinen schrecklicheren Gedanken als den, seine Tochter könne wieder bei ihm einziehen. Dass die Eltern seit langem getrennt leben, versteht sich von selbst. Wir haben es also erstens und vor allem mit einem Familienroman zu tun, jedoch nicht einem jener wuchtigen Epen, die sich derzeit so großer Beliebtheit erfreuen, sondern mit einem Stück auf der Höhe der Zeit. Olmi zeigt, dass die Familie für jeden wirklich das Unhintergehbare ist, auch und gerade, wenn sie eigentlich nicht mehr existiert, und dass sie zugleich ein furchtbarer Zwangszusammenhang ist. Sie stellt keine Thesen darüber auf, sondern führt uns das einfach vor. Das geschieht zuweilen mit sehr leichter Hand, was nicht zuletzt an der Sprache liegt, die diszipliniert ist und gleichzeitig feinste Nuancen wiederzugeben vermag, und doch wird man mit nichts verschont, bis man am Ende mit dem Kopf nickt und sich wieder einmal sagt: Ja, Familie ist schon etwas Fürchterliches.
Erst nach und nach wird deutlich, dass es in diesem Roman auch um das Ende der Kindheit geht, um jene schwere Zeit der beginnenden Pubertät also, die Sonja schon ziemlich erwachsen bewältigt. Warum? Weil sie auf ihre Großmutter aufpassen muss, die eigentlich auf sie aufpassen soll, nach einem Sturz aber im Krankenhaus landet, so dass die Verhältnisse sich am Ende umkehren. Auch das aber, wie sich am Ende herausstellt, ist nur scheinbar und wesentlich komplizierter. Denn Babuschka, wie wir erst auf den letzten Seiten richtig verstehen, hat sich die ganzen Jahre darum bemüht, ihre Enkelin vor der bösen Welt zu beschützen, denn diese Enkelin, dessen ist sie sich sicher, "hätte nie die Revolution überlebt".
Zugleich ist Babuschka jedoch auch diejenige, die ihre Enkelin am Schluss des Romans ins Leben führt und entlässt. Das geschieht - man kann es anders nicht sagen - in einer Art Handstreich, dessen Details hier natürlich nicht wiedergegeben werden können. Immerhin kann gesagt werden, dass Babuschka hier eine abenteuerliche Version der Erschießung der Romanows durch die Bolschewiki gibt - und insbesondere des Schicksals von Anastasia, die sie gekannt hat. Diese ist - so viel sei verraten - das geheime Zentrum von Babuschkas und damit zwangsläufig auch von Sonjas Leben gewesen.
JOCHEN SCHIMMANG
Véronique Olmi: "Die Promenade". Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Kunstmann Verlag, München 2009. 237 S., geb., 18,90 [Euro].
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