sich lohnen dürfte.
Hier nämlich handelt es sich nicht einfach um eine Chronologie der Passionsvertonungen und die Darstellung ihrer Wandlungen im Laufe der Zeit; leitend ist vielmehr die These, daß die musikalischen Werke immer auch ein Spiegel der theologischen, kunst- und geistesgeschichtlichen Strömungen ihrer Epoche sind. Neben Zitaten aus Kirchenordnungen und Traktaten bietet von Fischer vor allem eine umfangreiche Präsentation von Beispielen aus der bildenden Kunst.
Die Darstellung der kompositionstechnischen Entwicklung der Passionsvertonungen anhand weniger Beispiele verdient dabei besondere Bewunderung. Von den ersten Berichten über die Feier einer Passionsliturgie vom Ende des vierten Jahrhunderts erstreckt sich Fischers Überblick über die Entwicklung des einstimmigen Passionsgesangs, das verspätete Eindringen der Mehrstimmigkeit in die Karfreitagsliturgie und die Darstellung der unterschiedlichen Ausprägungen dieser Mehrstimmigkeit in den Ländern Europas und Südamerikas bis hin zu den Passionen Heinrich Schützens. Wesen und Verwendung der Passionsharmonie, der Summa passionis, werden ebenso erörtert wie die Frage einer korrekten Terminologie zur Bezeichnung der verschiedenen Formen der Passionsvertonungen. Das Entstehen der oratorischen Passion im siebzehnten Jahrhundert und die Entfaltung dieser Gattung bis hin zu Johann Sebastian Bach sowie die Entwicklung des nicht länger liturgisch gebundenen Passionsoratoriums erfahren eine knappe, doch konzentrierte Darstellung. Den Bogen, der sich von der Verabschiedung der gesungenen Passion aus dem evangelischen Gottesdienst und ihrer fortwährenden, doch künstlerisch unbedeutenden Existenz in der katholischen Liturgie über die Wiederentdeckung der Bachschen und Schützschen Meisterwerke im neunzehnten Jahrhundert bis zur Renaissance der vertonten Passion in der Gegenwart spannt, zeichnet Fischer anschaulich und konzis nach.
Während nun die Verknüpfung von Passionsvertonung und Frömmigkeitsgeschichte unmittelbar einleuchtet (man denke nur an das pietistische Gedankengut in Arien wie "Aus Liebe will mein Heiland sterben"), sind es die von Fischer behaupteten und als Erklärungshilfen für musikalische Phänomene angebotenen Parallelen zwischen bildender Kunst und Passionsmusik, die zur Kritik anregen. Zweifellos ist die Überlegung reizvoll, die Vorschrift im Ordo des Domes von Siena von 1215, daß die Worte "mortem autem crucis" flebile voce vorzutragen seien, stehe in einem Zusammenhang mit der sich im Gefolge des gescheiterten zweiten Kreuzzugs (1147 bis 1149) vollziehenden Wandlung der Christusdarstellungen vom Pantokrator zum Schmerzensmann. Aber kann man wirklich das im vierzehnten Jahrhundert immer zahlreicher werdende Personal auf Kalvarienberg-Darstellungen mit der Einführung der Mehrstimmigkeit in den Vortrag des Passionsgeschehens in Verbindung bringen und beides gleichermaßen als Ausdruck eines Bedürfnisses nach bildhafter Nachahmung werten?
"Die Passion. Musik zwischen Kunst und Kirche", lautet der Titel des Buches. Kurt von Fischer scheint damit sagen zu wollen, daß die Geschichte der Passionsvertonungen eingebettet ist in eine umfassende Geschichte der kirchlichen Kunst. Doch mißtraut er seiner eigenen These. Denn für die Zeit von der Mitte des siebzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts läßt er es an Belegen für Kreuzigungsdarstellungen in der bildenden Kunst fehlen. Für das zwanzigste Jahrhundert entdeckt er dann "schreiende" und "schweigende" Passionsdarstellungen in Malerei und Musik; das allzu Direkte an dieser Parallele macht stutzig.
"Musik zwischen Kunst und Kirche" könnte auch das Spannungsverhältnis bezeichnen, das zwischen der Entwicklung der Musik und liturgischen Erfordernissen bestand und besteht. Es fällt auf, daß Fischer dem Aspekt der musikalischen Praxis, die sich mit der liturgischen Tradition arrangieren muß (sich ihr unterordnet, ihr ausweicht oder sie modifiziert), keine Aufmerksamkeit schenkt. Für das Phänomen, daß gerade an hohen Festtagen die Liturgie eine entschiedene Tendenz zur Bewahrung des Überkommenen hat, ist der Karfreitagsgottesdienst das beste Beispiel; seine Form hat sich in der römischen Kirche vom siebten Jahrhundert bis heute fast unverändert erhalten und ist in Teilen sogar noch älter. Liegt es deshalb nicht nahe, anzunehmen, daß etwa die verspätete Einführung der Mehrstimmigkeit in die zentrale liturgische Lektion des Karfreitags vor allem mit dieser konservativen Tendenz zu tun hat? Könnte nicht ein Ansatz, der - zumindest für den katholischen Bereich - versucht, die Geschichte der Passionsvertonungen aus den Interessenkonflikten zwischen Liturgie, Volksfrömmigkeit und Kunstanspruch heraus zu begründen, ein mindestens ebenso tragfähiges, da praxisnahes Erklärungsmodell sein wie jenes, welches mittels Vergleichen mit den anderen Künsten auf den "Zeitgeist" verweist?
Kurt von Fischers Abhandlung wirft also zahlreiche Fragen auf. Er selbst schreibt in seiner Vorbemerkung: "Aufzuzeigen sind aber auch Zusammenhänge zwischen Musik, allgemeiner Geschichte, bildender Kunst und Literatur, die, vielfach nur andeutungsweise, als Denkanstöße für eine an geistesgeschichtlichen Fragen interessierte Leserschaft gedacht sind." In dieser Hinsicht (aber nicht nur in dieser) ist das Buch ein voller Erfolg. MICHAEL GASSMANN
Kurt von Fischer: "Die Passion". Musik zwischen Kunst und Kirche. Bärenreiter-Verlag, Kassel/Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1997. 145 S., zahlreiche Abb., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main