er nach Plan gereist ist. Dieser Plan wurde allerdings schon in der Antike entworfen und findet sich bis heute in keinem Kreuzfahrtkatalog, was den Autor wiederum verwundert. „Eine Fahrt auf den Spuren des Odysseus“, das wäre doch „ein einmaliges Abenteuer“, meint Lehmkuhl und ist sich nach seiner Solo-Irrfahrt – einmal quer durchs Mittelmeer und zurück – sicher, dass er die Premierenfahrt einer solchen Pauschalreise als Schiffschronist gern begleiten würde.
Nach der Lektüre von Lehmkuhls federleicht dahergeplauderter Nacherzählung der homerischen „Odyssee“ könnte man in Versuchung kommen, auf dieser Kreuzfahrt eine Kabine zu buchen. Der Literaturwissenschaftler und Essayist Lehmkuhl verzichtet auf eine Geschichtsvorlesung, stattdessen pickt er den Stoff für seine Geschichten von der Straße auf, filtert ihn aus nebenbei Gehörtem, lässt Zufallsbekannte in die Rolle des Erzählers schlüpfen. Den Türken Mehmet etwa, der aus den Kartoffelpreisen den Lauf der Welt abliest, oder den australischen Geschichtslehrer Howard, der über ein paar Bier zu Howie wird und die Schlacht an den Dardanellen erklärt. Die Australier, die zu Tausenden in Gallipoli starben, waren ihrer Heimat so fern wie Homers Held. Howie wundert sich, wie wenig der junge Deutsche, Lehmkuhl ist Jahrgang 1976, mit dieser Katastrophe aus dem Ersten Weltkrieg vertraut ist. Ein Stück weiter dann, am Evros, dem türkisch-griechischen Grenzfluss, begegnet der Autor einem Frontex-Mann, der im Auftrag Europas jeden modernen Odysseus aus Syrien oder Iran stoppen soll und darüber melancholisch geworden ist. Lehmkuhl versteht sich auf die große Reisekunst des Treibenlassens. So folgt „Die Odyssee“ in seiner Version zwar der klassischen, seit der Antike für wahrscheinlich gehaltenen Route. Dies aber nicht chronologisch, also eher freihändig, aber doch gewissenhaft. Aufgeben kommt für Lehmkuhl nicht in Frage, auch wenn ihn eine Sirene namens Sheila mit Süd-Londoner Akzent schon mal fragt: „Odysseus, wer war das noch mal?“ Auf der kleinen griechischen Insel Kythera, die Homer nur wegen der widrigen Winde erwähnt, die ihn gen Süden trieben, fragt sich Lehmkuhl, ob hier nicht alles zu finden wäre, was der Mensch so braucht und immer irgendwo anders sucht als da, wo er gerade ist: „Liebe, Freundschaft, Tod?“
Der Autor bucht gleich drei Nächte, selten verweilt er an einem Ort sonst so lang. Und er entdeckt auf dem der Aphrodite geweihten Eiland eine muntere Kolonie von Exilanten, die nichts mit den armen Schluckern vom Evros zu tun haben. Sie heißen Jutta, Riad, Peter, Willem und Julie und hatten es vermutlich in ihrem früheren Zuhause auch nicht schlecht.
Ein Abstecher auf die Halbinsel Mani ist mit einer tiefen Verbeugung vor Patrick Leigh Fermor verbunden, dem Vorbild aller Slowtraveller. Auf der Mani befindet sich das Haus des genialen britischen Geschichtenerzählers, kretischen Kriegshelden und großen Reisenden. Es gehört seit dem Tod Fermors im Juni 2011 einem Athener Museum. Fermor war 1933 zu Fuß in Holland gestartet, mit dem Ziel Konstantinopel. Er wanderte den Rhein und dann die Donau entlang, durch den Balkan, wo er schließlich hängen blieb, in den Armen einer rumänischen Prinzessin. „Auf Pilgerpfaden“ nennt Lehmkuhl sein Mani-Kapitel und bekennt seine innere Bewegung nach dem Besuch von Fermors in Schönheit verstaubender Schreibklause.
Erst in Patras, unter schuhlosen Roma, fühlt sich der Autor wieder in der harten hellenischen Realität angekommen, bevor er nach Italien übersetzt, wo er – und Lehmkuhl kann es selbst kaum glauben – noch nie war. Er kommt auch nach Gibraltar, wo Odysseus mit den Toten gesprochen haben soll. Das fällt ihm beim Besuch eines Supermarkts vor Regalen mit Shortbread und britischer Schokolade ein. Witz und Spannung entstehen bei diesem Reiseexperiment aus dem schroffen Nebeneinander von Mythos und alltäglicher Absurdität. Manchmal fällt Lehmkuhl zum trostlosen Hier und Heute auch gar nichts mehr ein, und das sagt er dann auch: „Außer gelegentlichen Plastikfeldern war da nichts mehr, wofür es Worte gegeben hätte.“ Da ist er auf dem Weg von Tunis Richtung Süden. Auf der Suche nach den Lotusessern. Und das alles wegen Odysseus.
Als Epilog leistet sich Lehmkuhl noch einen weiteren Seitensprung, jenseits von der vorgeschriebenen Route. Seine Neugier gilt diesmal einer Kirke, die ihn in jungen Jahren auf Kreta bezaubert hat. Die Griechin hat aber 18 Jahre später keine Lust, sich mit dem deutschen Nostalgiker überhaupt noch einmal zu verabreden. Der Mann ist sentimental, die Frau ist Realistin. Penelope, Helena, Athene, Kirke und Kalypso, „in Wahrheit, so könnte man meinen, herrschen die Frauen in der Welt des Mittelmeers“, schreibt Lehmkuhl. „Wie konnte Odysseus da überhaupt zum Helden werden?“ Eine gute Frage.
Tobias Lehmkuhl: Die Odyssee. Ein Abenteuer. Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 304 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 16,99 Euro.
Der Autor versteht sich auf
die Kunst, sich treiben zu lassen
Herbert James Draper malte 1909 „Odysseus und die Sirenen“ – Die „Odyssee“ im Gepäck machte Tobias Lehmkuhl sich auf seine Irrfahrt. Foto: bridgemanart.com
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