siebziger und frühen achtziger Jahren üblich war, so werden die anderen nicht müde, die pornographische Erniedrigung "autonomer Individuen" zu Sexualobjekten anzuprangern und im übrigen einen Kausalzusammenhang zwischen männlichem Pornographiekonsum und sexueller Gewalt gegen Frauen zu behaupten.
Zeit also, die Pornographie-Debatte selbst einmal als Symptom aufzufassen und zu sehen, wie Pornographie und Zensur in der Produktionsgeschichte des bürgerlichen Subjekts zusammengehören - so jedenfalls lautet der Vorschlag Barbara Vinkens, der Herausgeberin des Bändchens. Dabei fällt zunächst auf, daß das bürgerliche Zeitalter das pornographische Phantasma vom reinen, unwiderstehlichen Trieb zeitgleich mit den Programmen zu seiner Sublimierung hervorbrachte: Der Diskurs der Aufklärung konstituiert, wie Albrecht Koschorke ausführt, in einer doppelten Bewegung den pornographischen Körper als Negativ der empfindsam-schönen Seele und erschafft somit "zwei Körper der Frau": einen idealen, von Geschlechtlichkeit befreiten, und einen obszönen, "böser Lust" als einer Art vorgesellschaftlichen und vormoralischen "Wiederholungszwangshandlung" ausgelieferten.
Ist Pornographie "der krasseste Ausdruck des Phantasmas vom reinen Trieb" (Vinken), die Fiktion mithin, "daß es kein Phantasma gibt", sondern einem die "Natur", so man ihrer nicht wehrt, in der natürlichen Triebhaftigkeit der Körper "einfach kommt", so artikuliert das bürgerliche Subjekt darin seine Angst vor und seine Sehnsucht nach Kontrollverlust gleichermaßen: Wo die Maxime "to be in control" die Basis öffentlicher Selbstbehauptung als geschlechtsneutral verstandener "autonomer Individuen" abgibt, muß Selbstverlust abgespalten, dämonisiert und am Ort der anderen (zumeist der Frauen) als ebenso unwiderstehliches wie bedrohliches Geheimnis unterstellt werden. Das Phantasma permanent als solches zu verkennen und den "zutiefst bürgerlichen Mythos" (Koschorke) von der enthemmten Triebnatur (sei's als glückbringender, sei's als gewalttätiger) einfach buchstäblich zu nehmen - so lautet der Vorwurf, den Barbara Vinken und Judith Butler im vorliegenden Band an die Kombattanten in der Pornographiedebatte richten, wobei, gemäß dem gegenwärtigen Pegelstand der Diskussion, vor allem die Verfechter staatlicher Zensur in die Schußlinie geraten.
Diese nähmen nicht nur für den Mann ganz selbstverständlich als zutreffend an, was für die Frau als "erniedrigend" zurückgewiesen werde: daß er nämlich zuzeiten eine Art willenloses Anhängsel seines Geschlechtsorgans sei ("kommt ihm die Natur" - sprich: die Frau -, "dann wächst ihm der Schwanz über den Kopf", wie Barbara Vinken griffig formuliert). Sondern der unterstellte Reiz-Reaktions-Mechanismus wird dann auch noch auf das Verhältnis von pornographischem Szenario und Betrachter übertragen, der, will man etwa Catharine MacKinnon folgen, schier nicht anders kann, als das Gesehene oder Gelesene sofort in die schaurige Tat umzusetzen: "MacKinnon konstruiert das männliche Begehren nach dem Modell des Pawlowschen Hundes."
Wie Judith Butler geltend macht, wird das "visuelle Feld" der Pornographie hier umstandlos einem gleichsam göttlichen Imperativ gleichgesetzt, der die Macht hat, zu erschaffen, was er benennt. Dabei gäbe gerade die Pornographie, die im Video- und Fernsehzeitalter eben keine Schreibkunst mehr ist, Anlaß zu medientheoretischen Überlegungen, wie sie im vorliegenden Band Gertrud Koch anstellt. Unter dem Titel "Netzhautsex - Sehen als Akt" interpretiert sie die pornographische Schaulust als eine Art Nebenprodukt der allgemeinen Sexualisierung des Blicks, wie sie für unsere "hochrationalisierten und -organisierten Gesellschaften" typisch sei. Dabei betont auch Koch, daß, was in der Vorstellung oder als Bildschirm-Szenario erregt, darum noch lange nicht nach einfacher Umsetzung in die Tat verlangt: "Das Imaginäre der Pornographie liegt gerade in jenem Reich der Wünsche, die mehr gewünscht als gelebt werden wollen." SUSANNE LÜDEMANN
Barbara Vinken (Hrsg.): "Die nackte Wahrheit". Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997. 160 S., br., 19,90 DM.
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