alle gleich." Wenn der Philosoph also keinen privilegierten Zugang zum Wissen für sich in Anspruch nimmt, den er gegen die allzu vielen Mitwissenwollenden verteidigen müsste, sondern stattdessen wie jeder gute Redner die sich einfindenden Zuhörer möglichst dort abzuholen bereit ist, wo sie gerade eben stehen mögen. Die Rede ist von einem wahren Entzug vom Buch.
Und zwar von einem vorzüglichen Essay zum Problem der Drogensucht. Giulia Sissa, die am CNRS in Paris forscht und an der John Hopkins University in Baltimore Philosophie lehrt, ist mit ihrem Buch "Die Lust und das böse Verlangen" ein existenzialistischer Wurf dialektisch gelungen. Dass ein philosophischer Autor Bezüge über die Jahrhunderte und Kontextgrenzen hinweg herstellen kann, gehört zu seiner Ausbildung auf der Universität. Dass die Verfasserin einmal mehr zeigt, wie die Dichter und Künstler zu einem die Allgemeinheit betreffenden Thema den Leistungen der Denker Ebenbürtiges beitragen, ist allerspätestens seit der ästhetischen Wende der achtziger Jahre wieder zu einem Gemeinplatz der Philosophie geworden. Und dass ein Schriftsteller fleißig ist, wenn es ihm mit seinem Anliegen Ernst ist, erscheint nicht gerade neu.
Die Autorin hat nicht nur das halbe alte Abendland, sondern auch die neuesten Befunde der Neuropharmakologie in ihrem Werk verarbeitet. Dass aber ein Philosoph dies alles leistet, dabei jedoch jedem einigermaßen mit bildungsbürgerlichen Gütern vorbelasteten Haushalt, der sich mit seinen Süchten gründlich auseinandersetzen will, verständlich bleiben kann, das ist das Erstaunliche. Dass sie den Leser durch ihren so klaren wie schönen Stil funkensprühend zu fesseln vermag (die Übersetzung aus dem Französischen ist von Christine Schmutz), das ist das Preiswürdige - wären die Themen Droge und Sucht nicht an sich für jeden Schreibenden (und Lesenden) so dankbar. Oder etwa nicht?
Nach allen Regeln ihrer Kunst definiert, dekliniert und derangiert Sissa vor allem einen gehassliebten Gegner: den "pharmakologischen Calvinismus". Wie als ob etwas so Schreckliches wie die Sucht nach tödlichen Drogen dem Aufsässigen und Nachlässigen, dem Faulen und Unstrebsamen, dem Lustigen und Genießenden schlechthin breits in die Wiege gelegt worden sei! Diese fatale Hypothese findet nach ihrer Deutung nicht etwa nur eine verbindliche Auslegung in William Burroughs "Junkie", dem zwar illusionslosen, aber eben doch auch affirmativ autobiographischen Konfessionsroman eines Heroinabhängigen. Sondern nimmt ihren eigentlichen Ausgang, und das ist jene punktgenaue Peilung, die das Buch der Philosophin so besonders lesenswert macht, in Platons "Philebos", einem Dialog über das Verhältnis von "Einsicht" und "Lust", der für nicht wenige Leser mit der merkwürdigen These endet, dass die (philosophische) Einsicht besser sei als die gute Lust. Wie als ob Platon ein trockener Alkoholiker gewesen wäre! Wie als ob der Gipfelsturm jenes ganz speziellen Humanismus, der von dem Athener angefacht wurde, sein Telos nicht in einem freundlichen Ufersträßchen irgendeiner am weinseligen Neckar gelegenen Universitätshermeneutik haben wird. Sondern sich zuschlechterletzt in der Gosse, in einer dreckig schillernden Sackgasse der amerikanischen Schriftkultur austobte.
Die Philosophin lässt ihre Überlegungen von dieser einen, ambivalenten Erfahrung Ausgang nehmen: Dass nämlich die Droge nicht nur Schmerz lindert, sondern gar das vollkommene Glück selbst sein kann. Weil das Glück als die Freiheit von der Sorge um sich (die Autorin bezieht auch Heidegger in ihr Studium Generale ein), etwas Negatives darstellt. Die erste Erfahrung, die jeder Süchtige jedoch genau dann macht, wenn er gerade süchtig geworden ist, liegt darin, dass seine Lust etwas ausschließlich Negatives geworden ist. Weil ihm die Droge nur noch dient, den Schmerz, den sie inzwischen selbst erzeugt, fernzuhalten. Denn er hat den Bezug zur Welt verloren, ist allein und nur noch auf die Droge bezogen, von ihr abhängig, an sie gefesselt. Das letzte, schlichte und schöne Wort von Sissas Abhandlung aber lautet: "Wir vergessen zu oft, wie reizvoll das Leben ist."
Ihre Hauptantithese lautet daher: "In der Drogensucht verwirklicht sich eine Theorie der Begierde, die aus dieser Störung nicht den bösen Dämon eines genusssüchtigen Lotterlebens macht, sondern ein verständnisloses menschenfressendes Ungeheuer." Die Philosophin aber will endlich eine klare Unterscheidung zwischen Genuss und Sucht, zwischen Gier und Lust getroffen wissen, um endlich nicht mehr den Genuss als Sucht, die Lust als Gier verdammen zu müssen. Eine Differenz und eine Absicht, die nach Sissa sowohl Platon als auch Burroughs unterlaufen oder verhindern müssen oder wollen. In dieser fatalen Lage lässt sie zum Glück den Doktor aus Wien mit seiner heilenden Synthese kommen.
Sissas Essay endet mit einer in die vernünftige Verfluchung umschlagenden Seligsprechung des Heroin- und Kokainkonsums, die in eine problematisierte Apologie des Psychopharmakons Prozac mündet. Aber eine bei jung und alt immer beliebtere, in den Niederlanden und der Schweiz schon längere Zeit mehr oder weniger offen angebaute und angebotene Droge lässt die Autorin in ihrem beeindruckend ausgewogenen Plädoyer unerwähnt. In diese Lücke des Buches springt deshalb jetzt der Rezensent, und seine Rede ist vom Hanf. Über den man sagen kann, was man will, nur nicht, dass er eine "weiche" Droge sei.
Führt man Sissas Diskussion weiter, dann erscheint diese Droge als illegitimes, weil vergleichsweise gesundes Kind der kranken Eltern Kokain und Heroin. Aber der Körper verweigert ab einem bestimmten Moment der Dauerkonsumtion die Steigerung oder Erhaltung des Rausches durch weitere Zugabe vom Wirkstoff des Cannabis. Wer dann noch mehr will, muss entweder trinken oder die sogenannten "harten" Drogen nehmen. Dabei ist das Suchtpotenzial des Hanf insofern eingeschränkt, als dass die Kifferei zum "Sorgenbrechen" (Freud) gar nicht geeignet ist, weil sie, vor allem bei Anfängern und Unmäßigen, ein mächtiger Verstärker der eigentlichen Grundstimmung sein kann. Wem es nämlich in der Seele wirklich weh tut, wird so schnell kein zweites Mal zu diesem bestialischen Glimmstengel greifen wollen, denn der Trip war dann kein Aufbruch, sondern ein fürchterlicher Einbruch (in präziser Beschreibung nachzulesen bei Ernst Jünger in den "Annäherungen", Kapitel "Polnischer Karpfen"; er beging den Fehler, sein Dope aus Papas Apotheke zu klauen).
Doch kommen wir zum Buch zurück. Sissa macht Schluss mit einem falsch verstandenen, platonisierenden Protestantismus. Ohne evangelisch zu werden, könnte man ihre These in folgende Handlungsanweisung übersetzen: Sündigen, beichten, sich bessern, sündigen, beichten, sich bessern beziehungsweise: Erinnern, wiederholen, durcharbeiten. Und: Das Vergessen nicht vergessen.
FRANCESCO MAMMONE
Giulia Sissa: "Die Lust und das böse Verlangen". Die Philosophie der Sucht. Aus dem Französischen von Christine Schmutz. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 254 S., geb., 58,- DM.
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