dünnerer in ihm wankt". Oder diese Fräuleins-Tanten? Entfernte Freundinnen der Familie? Die Erinnerung weiß nicht mehr viel von ihnen, nur dass sie Kuchen buken zu jedem Geburtstag, Gebäcke mit seltsamen Namen "wie altdeutsche / zaubersprüche, heilsame formeln". Den "gugelhupf" zum Beispiel mit den wenigen Zutaten, "nur butter, eier, mehl / und zucker, milch und mandeln". Und Rosinen, "denen / auch sie am ende glichen, verschrumpelt, / ganz auf die eigene süße konzentriert". Bis ihr Sarg am Altar stand, "sein holz wie glänzend von butter, wie gebacken". Und "draußen sangen / die amseln, glaube ich, und durch die / hohen fenster fiel sonne herein". Oder der alte Lateinlehrer ("terra, terrae, terram - / letzter botschafter eines imperiums") mit seinen Cordhosen und den Strickpullis, "um die taille / so weit, daß alles immer hin zur toga / zu streben schien". Zwischen ihm und den Barbaren von Schülern nur der hölzerne "rhein der tische" (und damit klanglich die "Reihen") und dahinter Gallien, "zerfallen in drei teile".
Es geht hier um die Größe, ja die bescheidene Tapferkeit des kleinen Lebens. Sie hat ihren Grund in Tod und Vergänglichkeit, die in den immerschönen Gedichten von Jan Wagner allgegenwärtig sind. Man hat diesem Lyriker, Jahrgang 1971, vorgeworfen, ein Idylliker zu sein. Dabei steckt in seinen Versen neben dem anmutigen Spiel das verschluckte Schluchzen. Es ist der Impuls für die Verwandlung des Übersehenen in die Heiterkeit und Herrlichkeit der poetischen Haltung. Jan Wagner ist ein Hochseilartist der Form. Wer modulierte denn heute so makellos das Sonett, die Sestine, das Pantun und lancierte dabei mit sicherer Hand den kleinen Webfehler, die subtile Störung? Denk es, o Seele.
Jede noch so prosaische Erscheinung ist poesiefähig, ja mythenverdächtig, wenn sich das Ich ihrer annimmt und an ihr abarbeitet, bis sie glänzt. Bis das ins Gedicht gebrachte Ding das Ich - manchmal monströs - übersteigt und überstrahlt. Der Rettich zum Beispiel: "du hast so lang an ihm gezerrt, gezogen", bis er daliegt auf dem Küchentisch, ein "stoßzahn / von rettich", schließlich ein Gebilde von marmorner Kälte, "wie ein unterschenkel apolls, / ein mittlerer amor", dann ein "stummer albinogott", neben dem das Ich, das ihn doch hervorgebracht hat, immer kleiner wird ("beschleicht dich das gefühl, du habest exakt / um sein gewicht an gewicht verloren"). Dieses Rettich-Wesen (sein Name ist ja ein "seufzer", sein "stoßgebet: hätte ich, hätt ich . . .") steht in einer eigenartigen Korrespondenz zum Ich, in einer Ambivalenz von Leistung und Versagen. So dass das Ich am Ende seine Identität in ebenjene Nacht stellt, die das Wesen, das erst durch seine Anstrengung ans Licht kam, nun erhellt: "dein Haus liegt kalt und unbewohnt / unter dem rettichmond". (Dylan Thomas' Stimmen-Ikone "Unterm Milchwald", seine bitter-melancholische Liebeserklärung an ein walisisches Fischerdorf, mag anklingen.)
Wo ist ein Lyriker zu Hause? Er steht im Leben, schreibt einen "brief ans ende der straße", wo jenseits der Regionalbahn die Prärie beginnt, "jeder ein paria, / ein außenseiter unter den kaninchen". In diesen wüsten Zonen "ohne sonaten / und köchelverzeichnis" erscheinen sie "mit dem tränentattoo / am augenrand und dieser lepraklapper / aus leeren flaschen in der plastiktüte". Aber der Dichter scheint auch eine Art tragischer Verräter zu sein, der allein im Bauch des Wals haust und zu dem durch die "bartendämmerung / weit oben" doch die Frage nach Schuld und Verantwortung dringt. Unter den "leselampen / aus leuchtalgen" wehrt er ab: "verschwende keinen gedanken // daran, daß du ein sohn bist, bruder, neffe, / ob draußen juni ist, ob januar. / denk nicht an tarsis oder nivive. / nenn diesen walfisch deine heimat, jona."
Meer, Tiefen, Fische, aber ebenso Wolken, Höhen, das Fliegende sind Motive in Wagners neuem Gedichtband "Die Live Butterfly Show". Es verbindet sie die Freude an der Metamorphose. Ich und Objekt stehen in Wechselbeziehung. Im titelgebenden Gedicht evoziert das Ich den Schmetterling, der sich ihm nähert und dem er als "trenchcoatflügler, trauermantel" antwortet. Und als "undankbare blüte, die ich war".
Wer blüht, wenn ein Gedicht aufblüht? Das Sujet? Der Autor? Wer ist Schmetterling, wer Blume? Nährt sich der Dichter an den Dingen, die er mit radikalem Blick noch einmal neu sieht? Oder kommen die Dinge erst durch den Dichter zu sich als Bild und Klang und Sinn? In seiner Sprache gewinnen sie eine schillernde Dauer, die tröstet, weil sie, wie die Evidenz eines Stilllebens, uns versichern darf: zu sein.
Das letzte Gedicht gehört der Montgolfière. Unter den Blicken des französischen Königshofs hebt der erste mit Lebewesen besetzte Fesselballon ab. Er transportiert ein Schaf, einen Hahn, eine Ente: "in ihrem korb kaum hörbar, seltsam brav / in gottes blauem himmel nur pigmente". Komisch und tragisch und märchenhaft real steigen sie auf und entschwinden über die sie emportragenden Endreime auf ihre kleinen Namen - schaf/schlaf/graf, hahn/galan/kahn - in einer Versbewegung, die paradox erdet und adelt als Sang.
Jan Wagner: "Die Live Butterfly Show".
Gedichte.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 99 S., geb., 18,- [Euro].
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