die Unterscheidung zwischen hell und dunkel die ersten Gefühle, zwischen naß und trocken oder weich und hart, die sich ebenfalls sämtlich auf den schockhaften Kontrast zwischen Urmeer und Eislandschaft beziehen ließen? Und würde das irgend etwas ändern? An der Sehnsucht, der Geschichte oder der Musik? Ratlos bereits nach der Lektüre von zwei Seiten in Alexander Kluges jüngstem Buch, "Die Kunst, Unterschiede zu machen", blättert die Leserin zurück. Was hatte sie übersehen?
Der erste Text des Bandes erzählt unter dem Titel "Die Sehnsucht der Zellen" in zehn Zeilen nicht nur von der Körpertemperatur, sondern auch vom Salzgehalt der Nieren, der ebenfalls genau dem der Urmeere entsprechen soll. Das belegt sehr schön, daß der Körper über ein enormes Erinnerungsvermögen verfügt, das die stete Sehnsucht nährt, den Antrieb für all unser Tun. Der nächste Text verweist von der Erinnerung auf die Entstehung der Gefühle, spricht aber auch davon, wie in einer kleinwüchsigen "Tosca"-Darstellerin auf hohen Stöckeln das Gefühl "Gleich falle ich hin" lebt, und davon, wie es heiß und kalt wird in der Welt. Hier fällt dann der Satz vom hohen Alter der Musik. Die Leserin stockt wieder. Doch diesmal ist sie sicher, kein Wort oder Zeichen verpaßt zu haben, und blättert also nicht zurück, sondern läßt das Thema Musik und wie alt sie wirklich ist im Vergleich zu kalt und heiß erst einmal liegen, wie es übrigens auch Kluge tut, und liest dann mit ähnlicher Vorsicht, mit der die Tosca vorantrippelt, weiter: immer gewahr, daß sie über andere Passagen stolpern könnte, deren Bedeutung sich selbst bei wiederholter Lektüre nicht erschließen will.
Wie schon das Gesprächsbändchen "Verdeckte Ermittlung", das 2001 erschien, weist auch das jüngste Buch von Alexander Kluge zurück auf die mehr als zweitausendseitige "Chronik der Gefühle", in welcher der Autor zum Jahrtausendwechsel seine Erzählungen zusammengetragen hatte und darüber hinaus in neuen Texten alles, was er in den vergangenen Jahrzehnten gedacht, gefunden, beobachtet hatte. Diesmal handelt es sich um eine kaum über hundertseitige Collage aus kurzen neuen Texten - die auf der Grundlage von Gesprächstranskripten einer Veranstaltung mit Reinhardt Kahl im "Philosophischen Café" von Brigitte Landes bearbeitet und erweitert und von Kluge redigiert wurden - und aus alten, nämlich Auszügen aus der "Chronik": ein Digest also. Wer Kluges große Bücher kennt, wird nichts Neues entdecken. Wer sie nicht kennt, wird für die anderen, so ist zu fürchten, kaum Neugierde entwickeln.
Der Krieg war immer ein Thema in Kluges Werk, und so war es nur folgerichtig, daß seine Geschichten einst Trümmerfeldern glichen. Der neue Band aber präsentiert seine Texte wie auf einem geschmackvoll hergerichteten Tablett ähnlich jenen, auf denen in teuren Restaurants das Dessertangebot herumgetragen wird - Diverses, heiß und kalt. Abgestimmt auf einen Sinnhunger, den Kluge erst behauptet und dann nicht wirklich stillt, stellt er das scheinbar Unzusammenhängende nebeneinander, als sei es nicht nur offensichtlich durch den Willen des Autors verknüpft, sondern auch rätselhaft durch eine Gefühlsstruktur, denn "jede menschliche Eigenschaft ist gefühlsfähig und kann eine Struktur bilden, die mit anderen konzertiert". Hier ist sie wieder, die Musik, doch dann folgt als Beispiel: das Zwerchfell.
Es gibt auch in diesem neuen Buch Geschichten vom Bombenangriff auf Halberstadt, von Feuer und gekochten Leibern; auch von Asterix, dem Gallier, von dem blinden Lastwagenfahrer, den sein Sohn beim Fahren leitet, von Stalingrad, dem Ursprung der Sprache und dem Autor als Partisan. Nichts Neues also. Es gibt Zitate von Marx und Kafka, Anekdoten und Gleichnisse, durchmischt mit Banalitäten wie der Einsicht, daß "Angst etwas Lähmendes" hat und sie zu teilen "Vertrauen schafft". Mit einiger sprachlicher Schlampigkeit werden wir darüber informiert, daß "immer, wo" Lebewesen beteiligt sind, der "subjektive Anteil mitschwingt" und in der Gegend von Babylonien Städte entstanden, "in deren Mitte eine Burg und ein Heiligtum steht".
Kluges Erzählstrategie einer "Mobilisierung von Wahrnehmungsweisen und Gefühlen", die vom herrschenden Bewußtsein "nach unten gedrängt" wurden, hatte einst Schächte in tiefere Sinnschichten begehbar gemacht. Heute aber, nach Jahren nahezu täglicher Medienpräsenz, ist der unverwechselbare sound in Kluges Sätzen kein Störgeräusch mehr. In seinem sehr hohen Ton klingt kaum noch die Melodie der versteinerten Verhältnisse, sondern leise bereits der jingle intellektuellen Markenschmocks.
Alexander Kluge: "Die Kunst, Unterschiede zu machen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 111 S., geb., 15,- [Euro].
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