Freiwilliger im Ersten Weltkrieg eine schwere Verwundung erlitten hatte, war deutschnational geprägt und als Leiter des Predigerseminars 1932/33 auch ein begehrter Redner auf NSDAP-Versammlungen gewesen. Zum Bruch kam es im Kirchenkampf, als sich Stempel an führender Position innerhalb der pfälzischen Pfarrbruderschaft betätigte. Entgegen späteren Legenden war die Pfarrbruderschaft aber keine Keimzelle einer grundsätzlichen Opposition zum NS-Regime, sondern durchaus zur Kooperation mit der deutsch-christlichen Kirchenregierung unter Landesbischof Ludwig Diehl bereit, einem Altparteigenossen mit goldenem Parteiabzeichen.
Bis 1949 kümmerte sich Stempel um die Inhaftierten im Landauer Internierungslager, anschließend bis zu seinem Tod 1970 um verurteilte NS-Täter. Er bezeichnete sie allerdings nicht als Täter oder gar Verbrecher, sondern als "Kriegsverurteilte", die zu ihren Handlungen "befohlen und missbraucht" worden seien. Noch 1970 forderte Stempel im "Evangelischen Kirchenboten" die Freilassung der letzten in den Niederlanden einsitzenden NS-Täter ("Vier von Breda") sowie von Herbert Kappler und Rudolf Hess. Dieses Engagement wurde von der Mehrheit der Pfarrbrüder lange Zeit kritiklos hingenommen und von der pfälzischen Landeskirche jahrelang mit 30 000 DM jährlich unterstützt.
Auch Pfarrer Friedrich, der von 1951 bis 1957 im Auftrag der Ökumenischen Kommission für die Pastoration der Kriegsgefangenen in Frankreich weilte, beließ es nicht bei der christlich gebotenen pastoralen Seelsorge, sondern verstand sich auch als Lobbyist für seine Schützlinge. Erschreckend ist der geschilderte Fall seiner Bemühungen um den Höheren SS- und Polizeiführer Carl Oberg und seinen Adjutanten Helmut Knochen in Paris, die unter anderem für die Deportation und Ermordung von 80 000 Juden verantwortlich waren. Sie wurden 1954 von einem französischen Militärgericht zunächst zum Tode verurteilt, dann aber 1962 in die Bundesrepublik entlassen.
Wie auch in anderen Beiträgen deutlich wird - so in der Fallstudie zur Kirche in Schleswig-Holstein und zur Rechtfertigungsstrategie des Tübinger Theologen Gerhard Kittel -, war die Bereitschaft zu einer selbstkritischen Reflexion nur schwach ausgeprägt. Wesentlich wirkungsmächtiger war hingegen die nationalprotestantische Erblast: die vorbehaltlose Identifikation von Staat, Volk und Kirche, die jetzt ihre Stimme gegen das alliierte Besatzungsunrecht erheben müsse. In der Ablehnung der Entnazifizierung als einem schweren Unrecht und in dem Einsatz für nahezu alle NS-Täter, die sich vor alliierten Gerichten zu verantworten gehabt hatten, waren sich die Kirchenführer, ungeachtet aller sonstigen Differenzen, einig. Dies galt geradezu als eine Pflicht der nationalen Ehre und Selbstachtung, da man ja selbst auch Opfer des Krieges gewesen sei und die andere Seite ebenfalls Kriegsverbrechen begangen habe. In dieser Wahrnehmung verflüchtigte sich das Spezifikum der NS-Verbrechen. Hinzu kam ein überwölbender Antikommunismus, der bereits im Nationalsozialismus loyalitätsstiftend gewirkt hatte und nunmehr auch die Integration schwerbelasteter Parteimitglieder in den kirchlichen Dienst ermöglichte.
Mit diesem undifferenzierten Gnadenlobbyismus, der - wie zwei weitere Beiträge verdeutlichen - alle ethischen Normen zum Umgang mit Schuld und Sühne sprengte, spiegelte die evangelische Kirche allerdings einen breiten Konsens der deutschen Nachkriegsgesellschaft wider. Es war der vergangenheitspolitische Ansatz der Adenauer-Ära, der auf größtmögliche Integration abzielte und auf die Empfindungen der NS-Opfer wenig Rücksicht nahm. Für eine großzügige Entschädigung und Wiedergutmachung setzte sich der Rat der EKD in diesen Jahren in keiner einzigen Stellungnahme ein.
Eine umfassende Untersuchung steht allerdings nach wie vor aus. Sie müsste auch das von Theodor Heckel geleitete Hilfswerk für Internierte und Kriegsgefangene, die zahllosen Eingaben evangelischer Kirchenführer bei alliierten und deutschen Stellen, die Mitarbeit von Bischof Theophil Wurm im Präsidium der "Stillen Hilfe" oder die Kampagnen der Wochenzeitung "Christ und Welt" einbeziehen, von der 1958 auch noch die letzten in Landsberg einsitzenden SD-Einsatzgruppenführer profitierten. Zur Aufarbeitung dieses finsteren Kapitels sollte die evangelische Kirche - wie bereits in vielen Unternehmen und Behörden geschehen - eine unabhängige Historikerkommission einsetzen. CLEMENS VOLLNHALS
Nicholas John Williams/Christoph Picker (Hrsg.): Die Kirche und die Täter nach 1945. Schuld - Seelsorge - Rechtfertigung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022. 192 S., 85,- Euro.
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