gerade die Jahre 1927 und 1955 als entscheidende Zäsuren dienen. Zugleich wird mit diesem "verschiedene historische Phasen und politische Zäsuren integrierenden" Zugriff ein nicht unbeträchtlicher Anspruch angemeldet. Dass er weitgehend eingelöst werden kann, liegt an der soliden Quellenauswertung. Münzel hat die Bestände einzelner Großunternehmen und eine Reihe von Nachlässen und Briefwechseln durchgesehen. Die aus diesen Materialien gearbeiteten Fallstudien zu Mannesmann, AEG, Schering und Ullstein sind besonders lesenswert.
Die Ergebnisse können sich sehen lassen, wenn auch manche noch eine Vertiefung oder auch Verifizierung verdienen und andere wenig überraschend sind. So gilt für die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite im Besonderen, was für diese im Allgemeinen wiederholt festgestellt werden konnte: Ihre Formation war eng an die Großunternehmen gebunden, allen voran an die gerade für Deutschland seit der Hochindustrialisierung entscheidende wirtschaftliche Organisationsform der Aktiengesellschaft. Dort macht Münzel drei "Elitesegmente" aus, neben der Managerelite der Vorstandsmitglieder und der Netzwerkelite der Aufsichtsratsvertreter vor allem die sogenannten Netzwerkspezialisten. Am Ende der Weimarer Republik waren in dieser Gruppe 40 Prozent jüdischer Religion oder Herkunft - verglichen mit 11 beziehungsweise 23 Prozent unter den Vorstands- beziehungsweise Aufsichtsratsvertretern. Das ist bemerkenswert, weil diese Spezialisten die Positionen an den Knotenpunkten der unternehmerischen Netzwerke besetzten.
Münzel interpretiert den hohen Anteil jüdischer Netzwerkspezialisten mit guten Argumenten als Beleg für "die Wirksamkeit starker Integrationskräfte . . . Denn nirgends kamen die Anerkennung der persönlichen Reputation und die Erweisung von Vertrauen deutlicher zum Ausdruck als in der Vielfachkooptierung." Kein Wunder also, dass die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gerade für die jüdischen Netzwerker enorme Folgen hatte. Zwar blieben einerseits "antisemitische Bekundungen innerhalb der Wirtschaftselite weitgehend aus", doch wurden andererseits und gleich mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft die "Prämissen der Solidarität preisgegeben" - jedenfalls in den Kreisen der nichtjüdischen Wirtschaftselite. Im Übrigen bestätigt die Untersuchung die Beobachtung eines tiefgreifenden Widerspruchs zwischen weltanschaulicher Parole und rationaler, in diesem Falle betriebs- und volkswirtschaftlicher Rechnung. Weil die Konsolidierung nationalsozialistischer Herrschaft nicht zuletzt vom Wachstum jener Unternehmen abhing, in deren Führungsschichten Juden eine zentrale Rolle spielten, billigten Staat und Partei diesen "aus ökonomischem Kalkül entscheidende Spielräume und Möglichkeiten zu, erfahrene Fachleute . . . in Schutz zu nehmen".
Firmen wie Schering, Mannesmann oder auch die IG Farben zeigten sich bereit, verbliebene Handlungsspielräume zu nutzen, jüdische Manager in Auslandsvertretungen zu plazieren und ihnen damit die Emigration zu ermöglichen. Zwar kehrten die wenigsten von ihnen nach dem Krieg nach Deutschland zurück, auch hatten sie, jedenfalls als Gruppe, für den wirtschaftlichen Wiederaufbau keine nennenswerte Bedeutung. Wohl aber waren viele der Emigranten ohne große Umstände bereit, vormaligen Kollegen wie Hermann Josef Abs, Kurt Schmitt oder Wilhelm Zangen die begehrten "Persilscheine" auszustellen, also jetzt ihrerseits jene Solidarität zu praktizieren, von der sie selbst, solange sie noch in Deutschland waren, wenig genug gespürt hatten: "Das Engagement der Emigranten ging dabei über die übliche Entlastungskultur hinaus und beruhte ganz offenbar auf Strukturen einer elitespezifischen Solidarität, die die Jahre der Vertreibung und Emigration überdauert hatten." Dieser bislang kaum bekannte Aspekt gehört zu den spannendsten der wichtigen Untersuchung.
GREGOR SCHÖLLGEN
Martin Münzel: Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite 1927-1955. Verdrängung - Emigration - Rückkehr. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 502 S., 49,90 [Euro].
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