Ungebundenheit denk- und zumutbar?
Wer diesen Fragen auf den Grund gehen möchte - sofern es einen Grund geben kann in Dingen, die das Herz betreffen -, der sollte den eleganten Essay der Münchener Germanistin Hannelore Schlaffer lesen, der den etwas unscheinbaren Titel "Die intellektuelle Ehe" trägt. Er entwirft eine Kulturgeschichte der Paarbeziehung in den vergangenen zweihundert Jahren, die dem Leser vor allem klarmacht: So unverwechselbar und einmalig sich jede Liebe anfühlt, so sehr hängt doch die Gemeinschaft zweier Menschen von ihrem gesellschaftlichen Kontext ab.
Die letzten zweihundert Jahre mit ihren radikalen Veränderungen in allen Lebensbereichen - Industrialisierung, Entwicklung der Städte zu Metropolen, wachsende Mobilität, Psychoanalyse und vor allem die Emanzipation der Frau - haben die Beziehung zwischen Mann und Frau revolutioniert. Dabei ist die angestrebte Verbindung von Ehe und Liebe ein relativ neues Phänomen: Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde mit dem Aufkommen des Konzepts der romantischen Liebe die traditionelle Ehe in Frage gestellt, wurde die Verbindung von Liebe und Ehe gefordert und damit eine individuelle Entscheidung der Partner füreinander an Stelle einer institutionellen Vereinbarung, in deren Rahmen zwei Menschen ihr Leben miteinander verbringen.
Die Folge eines solchen Wandels liegt auf der Hand: Bald schon wurde die Forderung nach Auflösbarkeit dieser aus individueller Neigung geschlossenen Bindung laut. Im zwanzigsten Jahrhundert gingen Intellektuelle und Schriftsteller wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Bert Brecht, Vita Sackville-West und Harold Nicolson noch einen Schritt weiter und forderten innerhalb der Ehe vollkommene Freiheit - dieses Experiment nennt Hannelore Schlaffer die "intellektuelle Ehe". Intellektuell, weil sie eine kontinuierliche Auseinandersetzung der Partner miteinander voraussetzt, eine andauernde Definition und Neudefinition der Beziehung und ihrer Regeln.
"Dass wir Echtheit überall durchbrechen lassen", hatte sich Heidegger in einem Brief an seine Frau gewünscht, Authentizität statt eines gesellschaftlich definierten Regelwerks und damit der moderne Traum von Individualität auch im Lebensentwurf als Paar. Dabei ist die Geschichte der sich wandelnden Vorstellungen von Liebe und Ehe immer auch eine Geschichte der Emanzipation der Frau: Die "Gefährtenehe", wie sie Max und Marianne Weber führten, war noch keine auf Augenhöhe, weil Marianne Weber zwar als eine der ersten Frauen Zugang zur Heidelberger Universität hatte, aber als Schülerin ihres Mannes nur von ihm lernen konnte und sich schließlich in ihren eigenen Schriften auf eine Beschreibung ihrer Ehe beschränkte.
Erst Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre führten eine gleichberechtigte Beziehung, in der lebenslange Liebe mit Freiheit verbunden werden sollte - nicht zuletzt, weil hier die Frau nicht länger abhängig war vom Mann. Dieses Experiment war beiden Nährboden für ihr Schreiben, und in Tagebüchern und Romanen sieht man, welche Herausforderung ein solcher Lebensplan darstellte, mit wie viel Leiden er verbunden war: "Die Harmonie zwischen zwei Individuen ist niemals gegeben, sie muss immer wieder neu erobert werden", schrieb Simone de Beauvoir. Brecht führte dann das Experiment der intellektuellen Ehe konsequent zu Ende, indem er sich mit Frauen umgab, die mit ihm zusammen ein künstlerisches Werk schufen.
Das, was Schlaffer "intellektuelle Ehe" nennt, ist als radikales Experiment schwer lebbar, beeinflusst unser Denken und unsere Ansprüche an eine Beziehung jedoch nachhaltig, denn über die Literatur hat es Eingang in unsere Alltagskultur gefunden: Schlaffer vermag zu zeigen, wie bei der Gestaltung moderner Beziehung die Literatur und das Leben zusammengewirkt haben, wie der Roman überhaupt, der eine vornehmlich weibliche Leserschaft hatte, und dann der Ehestiftungs- und der Ehebruchsroman des neunzehnten Jahrhunderts im Besonderen, die moderne Vorstellung von Liebe und Ehe geprägt haben. Und sie deutet an, dass dieses Phänomen auch heute noch aktuell ist - dass es aber der Film ist, der uns inzwischen eine bestimmte, erstaunlich konservative Form des Zusammenlebens suggeriert.
Wenn man gemeinsam mit einem begeisterten Millionenpublikum Carrie Bradshaw in "Sex and the City" dabei beobachtet, wie sie mit allen Mitteln versucht, Mr. Big vor den Altar zu zerren, dann ahnt man, dass die große Freiheit in der Gestaltung von Beziehungen viele Menschen verunsichert. Als die Liebe ein unordentliches Gefühl wurde, sich von gesellschaftlichen Konventionen und dem religiösen Überbau befreite, wurde sie auch zur privaten Herausforderung, die jeder für sich zu meistern hat. Der Lebensentwurf der Moderne zielt nicht länger auf Moral, verbunden mit einem Glücksversprechen für ein wie auch immer geartetes Jenseits, sondern auf das individuelle Glück. Und so ist auch in der Liebe jeder sein eigener Glücksritter.
Eine Zeit, die es dem Einzelnen abverlangt, sein Glück zu finden, und die Abwesenheit von Glück als Scheitern definiert, muss notwendigerweise eine Zeit sein, in der Beziehungen nicht auf Dauer angelegt sind, in der, wie Schlaffer schreibt, das Experiment der intellektuellen Ehe in die serielle Monogamie übergeht. Denn wenn "die Ehe der Liebe folgt wie die Wirklichkeit dem Traum", so kann diese Wirklichkeit, einmal schal geworden, durch einen neuen Traum ersetzt werden, den man in die Wirklichkeit zu übersetzen versucht.
So viel Freiheit und Glücksverheißung war nie, aber auch nie so viel Gefahr zu scheitern. Hannelore Schlaffer gibt mit diesem Buch, das nicht als Ratgeber gedacht ist, den einzigen Ratschlag, den man zwei Menschen geben kann: Schaut genau hin, webt jeden Tag an eurem Liebestraum, wenn er Beziehungswirklichkeit werden soll. Und rechnet mit dem Scheitern.
CONSTANZE NEUMANN
Hannelore Schlaffer: "Die intellektuelle Ehe". Der Plan vom Leben als Paar.
Carl Hanser Verlag, München 2011. 224 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main