auszudrücken, an dem Fuß, den Amerika nach Europa gesetzt hat, gab es eine wunde Stelle. Das war West-Berlin. Immer wenn wir den Amerikanern auf diesen Fuß treten wollten, um sie den Schmerz spüren zu lassen, mußten wir nur die Kommunikationsverbindungen des Westens mit dieser Stadt blockieren, die über das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik verliefen."
Nach dem Bau der Mauer und der mit der Abriegelung erreichten gewaltsamen Stabilisierung der DDR stand Berlin nicht mehr so stark im Rampenlicht. Aber für den "zweiten deutschen Staat", so vermag Steffen Alisch in seinem überzeugenden, auf sorgfältige Auswertung der SED-Protokolle gestützten Werk zu zeigen, blieb die Berlin-Politik bis zum Fall der Mauer von zentraler Bedeutung. Sie war häufig "Chefsache" Ulbrichts und später Honeckers. Für die ostdeutsche Diktatur war West-Berlin einerseits "Ausland", andererseits bot die Tatsache der künstlichen Zerschneidung der Stadt zahlreiche Ansatzpunkte, um die eigene Position zu stärken: Die gesamtstädtisch angelegten Verkehrs- und Wassersysteme waren für dieses Kräftemessen ebenso geeignet wie die Reise- und Besuchsvereinbarungen. Für Ost-Berlin ging es aber nicht nur um die Auseinandersetzung mit Bonn; stets war die SED auch bemüht, eine gewisse Autonomie gegenüber der Sowjetunion zu demonstrieren. An der grundsätzlichen Abhängigkeit von Moskau änderte das zwar nichts, aber manche Intransigenz in den Verhandlungen mit dem West-Berliner Senat war demonstrativen Gesten der "Unabhängigkeit" zu verdanken.
Nach dem Bau der Mauer zeigte die DDR keine Bereitschaft, ohne wesentliche Zugeständnisse Reiseerleichterungen zu gewähren. Die Verhandlungen zu den Passierscheinvereinbarungen kamen daher einem diplomatischen Kleinkrieg gleich: Für die Bundesregierung und den Berliner Senat ging es darum, den West-Berlinern wenigstens die Besuche von Verwandten jenseits der Mauer zu ermöglichen, während die DDR diese Notlage auszunutzen gedachte, um ihre Maximalposition durchzusetzen: West-Berlin lag nach Ansicht Ulbrichts auf dem "Territorium der Hauptstadt der DDR". Einen Ausweg aus diesem Dilemma bot erst die 1969/70 erkennbare Bereitschaft der Sowjetunion, auch in der Berlin-Frage Kompromisse einzugehen. Wirkliche Fortschritte waren aber erst möglich, als die Vier-Mächte-Verhandlungen über Berlin und der Moskauer Vertrag vom August 1970 den Weg gebahnt hatten. Die 1972 vereinbarten Besuchsmöglichkeiten werden von Alisch sogar als "Quantensprung für die Lebensbedingungen der West-Berliner" bezeichnet. Die Sowjetunion versicherte der DDR in diesen Fragen zwar stets pflichtschuldig ihre "brüderliche Solidarität", unterstützte sie in der Praxis aber nur, wenn es den eigenen Interessen diente.
Der DDR blieb dann allerdings immer noch die Politik der Nadelstiche. Sie überzog die Transitstrecken mit einem dichten Netz von Kontrollstellen und nutzte jede Möglichkeit bürokratischer Schikanen aus. Später gab Ost-Berlin - in einer Umkehrung der Interessenlage - den sowjetischen Wünschen ebenfalls nach. 1973 und 1980 wurden Moskauer Sorgen vor zu vielen westlichen Besuchern prompt besänftigt, indem der Mindestumtausch für Besucher erhöht wurde - für die ostdeutsche Diktatur eine unangenehme Erfahrung, weil die Zahl der Besucher spürbar zurückging und damit inzwischen unverzichtbare Devisenzahlungen ausblieben.
Ein schon zeitgenössisch im Westen umstrittener Besuch des Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker bei Honecker im September 1983 nutzte die SED-Führung konsequent für Statusveränderungen aus: Sie konnte jetzt darauf verweisen, daß die Begegnung nicht wie bisher rein "technischer" Natur war, sondern einem politischen Kontakt gleichkam, was bis dahin seitens des Westens stets vermieden worden war. Nachdem der spätere Bundespräsident diese Bresche geschlagen hatte, mochte die bald an die Spitze des Berliner Senats rückende sozialdemokratische Regierung nicht nachstehen. Die SPD verfolgte gegenüber der SED-Führung einen Schmusekurs, der beispielsweise in der Zeit der Nato-Nachrüstung selbst die Sicherheitspartnerschaft des westlichen Bündnisses in Frage stellte.
Diese gefährlichen Experimente, die mit manchen ideologischen Verrenkungen seitens der SPD erkauft waren, sind heute allerdings wenig mehr als eine Fußnote der Geschichte. Denn alle Versuche der DDR, den Status West-Berlins zu ihren Gunsten zu verändern, waren von dem Moment an aussichtslos, als die Sowjetunion sie fallenließ. Am Schluß war Honecker von der Realität vollkommen abgekoppelt. Als der Regierende Bürgermeister Walter Momper am 19. Juni 1989 zu einem Besuch bei dem SED-Generalsekretär eintraf, bezeugten Honeckers im DDR-Protokoll festgehaltene Worte die irrlichternde Fehleinschätzung: "Die Umgestaltung der Sowjetunion habe ihre eigenen Gründe. Der Lebensstandard der Bevölkerung der DDR könne sich mit dem der BRD messen. Vielleicht gebe es in der DDR nicht so viele blinkende Autos, aber die Verkehrsdichte sei ohnehin schon sehr hoch."
JOACHIM SCHOLTYSECK
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