von der Türkei abgestritten, bis heute existiert kein einziger Hinweis darauf in türkischen Schulbüchern.
Wie es bei vielen Werken anderer Schriftsteller und Künstler armenischer Herkunft bei diesem Thema der Fall ist, hat auch Balakians Buch eine eindeutige Botschaft. Besonders im letzten Kapitel, das auf die gegenwärtige internationale Auseinandersetzung mit dem Völkermord eingeht, fordert er explizit das Eingeständnis des Genozids durch die türkische Regierung.
Doch handelt es sich bei diesem Buch im Kern nicht um eine Anklage- oder Kampfschrift gegen die Türken. Von der ersten Zeile an ist es eine einzige Liebeserklärung an die Person, die die kindliche Wahrnehmung des Autors wie keine andere geprägt hat und ihm unmerklich und wie nebenbei seine ursprüngliche armenische Herkunft vermittelte: seine Großmutter Nafina Aroosien. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die 1915 den Todesmarsch in die syrische Wüste überlebten und fünf Jahre später von Aleppo aus in die Vereinigten Staaten auswanderten, um ein neues Leben als Amerikanerinnen zu beginnen.
Ihr Enkel gehört zur dritten Generation armenischer Einwanderer und ist in zwei Welten aufgewachsen: im boomenden Amerika der fünfziger und sechziger Jahre mit seinen Sport- und Popmusikidolen und in der Geborgenheit einer Familie, die unauffällig ihre armenischen Riten und Bräuche pflegt. Die fremdartig klingende Sprache seiner Großmutter, ihr "Eench, Eench. Eench-eh: Was ist los, was ist denn, bist du okay" - oder die Düfte der armenischen Küche im Haus der Eltern, das alles fasziniert den Jungen von klein auf.
Das Schicksal der Großmutter erfährt er von ihr allerdings nur in Andeutungen, in Geschichten und Parabeln wie etwa in der vom "schwarzen Hund des Schicksals" - es bleibt lange ein Geheimnis. Im Zusammenprall von amerikanischem Fast food und fremdartigen kulinarischen Genüssen, von Baseballhelden und archaischen Namen, von Trivialmythen und scheinbar undeutbaren Parabeln empfindet sich der junge Balakian immer mehr als ein Außenseiter, ohne allerdings seine wahre Herkunft lokalisieren zu können.
Hinzu kommen seine beiden Tanten väterlicherseits, Nona und Anna Balakian, Frauen, die sich in der Welt der Literatur und Kunstwissenschaft einen Namen gemacht haben und bei denen Peter Schriftstellerinnen wie Anais Nin und Erica Jong, Autoren wie William Saroyan und Kurt Vonnegut kennenlernt. Aber auch in diesem intellektuellen Zweig der Familie gibt es ein Thema, über das mit großer Hartnäckigkeit geschwiegen wird: der Völkermord an den Armeniern.
Erst als Balakian 23 Jahre alt ist und sein Geld als Lehrer verdient, hat er ein Schlüsselerlebnis mit weitreichenden Folgen. Am zehnten Todestag seiner geliebten Großmutter Nafina schlägt er die Bitte seiner Mutter aus, zum Gedenkgottesdienst zu kommen. Er verbringt das Wochenende lieber mit einem Mädchen. Gleichwohl quälen ihn Schuldgefühle, aus denen heraus er ein Gedicht an seine Großmutter schreibt. Dieses Schlüsselgedicht, das ziemlich genau in der Mitte des Buches steht, markiert den Übergang der "Reise" und der "Ausgrabungen", wie der Autor seine Suche nach der Vergangenheit nennt, in ein anderes Material und einen anderen Stil.
An den Platz der bilderreich dargebotenen eigenen Erinnerungen treten nun Dokumente und Zeugnisse, die das Schicksal der Armenier beschreiben und bezeugen. Allen voran folgen wir dem Autor beim Lesen der Memoiren Henry Morgenthaus, der während der Zeit des Massakers amerikanischer Botschafter in der Türkei war. Auf der Suche nach dem Schicksal seiner Vorfahren stößt Balakian auch auf ein bewegendes Dokument, das seine Großmutter hinterlassen hat. 1920, zu einer Zeit, als noch keine internationalen Menschenrechtskonventionen existierten, stellte sie bereits eine Art Wiedergutmachungsantrag gegen die Türkei. Der genauen Aufstellung verlorener Güter folgt eine so nüchterne und präzise Darstellung der Umstände der Vertreibung, daß der Leser der juristisch kargen Worte nur das Grauen erahnen kann, das ihre Grundlage bildet. Wie um diesen Mangel auszugleichen, erzählt der Autor den Bericht seiner Tante Gladys nach über das, was ihre Cousine Dovey auf dem Todesmarsch in die Wüste erfahren mußte. Als die halbverhungerten Kinder und Mütter schließlich nach vielen Tagen den Euphrat erreichten, sah man "Meilen und Meilen nichts als Leichen, . . . halb verwest, ohne Kopf, ohne Gliedmaßen, Körperteile, die einherschwammen. Auf den Schlammbänken, die oft wie Krokodile emporragten, stapelten sich Hunderte verwesender Körper zuhauf, und die Seeschwalben machten sich darüber her. Die Körper vergingen im Schlamm."
Sieben Jahre lang hat Balakian an seinen Erinnerungen und Recherchen geschrieben und gearbeitet, Tausende von Dokumenten gesichtet, Gespräche geführt und so die Zeit seiner Kindheit und Jugend mit bewundernswerter Detailfreudigkeit festgehalten. Die Dichte seiner Darstellung, die Intensität seiner Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema des Holocaust, die Differenziertheit seiner Wahrnehmungen verleihen seinem Buch eine erregende und erschütternde Authentizität.
MARTIN GRZIMEK
Peter Balakian: "Die Hunde vom Ararat. Eine armenische Kindheit in Amerika". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jörg Trobitius. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000. 375 S., geb., 45,- DM.
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